Patientin als Spielball der Behörden

Etzling · Wegen einer fehlenden Geburtsurkunde lehnte die französische Krankenkasse eine in Lothringen lebende Deutsche ab.

 Nach ihrer Notoperation in Metz fing für Gerda Speicher Thiel ein monatenlanger Kampf um die Übernahme der Kosten an. Foto: Gentsch/dpa

Nach ihrer Notoperation in Metz fing für Gerda Speicher Thiel ein monatenlanger Kampf um die Übernahme der Kosten an. Foto: Gentsch/dpa

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Erst jetzt, nach sechs Monaten, können Gerda Speicher Thiel und ihr Lebensgefährte Martin Wirtz aufatmen. Das vergangene halbe Jahr fühlte sich das deutsche Paar, das im lothringischen Etzling wohnt, wie in einem schlechten Film. Im August musste Gerda Speicher Thiel notoperiert werden. Der Zustand der Rentnerin, die einen Magendurchbruch erlitt, wurde zunächst im nahegelegenen Krankenhaus in Forbach stabilisiert. In der selben Nacht noch wurde sie nach Metz verlegt und operiert. Nach dem Krankenhausaufenthalt flatterte die erste Rechnung in den Briefkasten - ein fünfstelliger Betrag.

"Gerda ist in Deutschland bei der DAK krankenversichert und geht normalerweise auch in Saarbrücken zum Arzt", erzählt Martin Wirtz gegenüber der SZ. Weil sie in Frankreich wohnt, hat ihr ihre deutsche Kasse das Formular E121 ausgestellt, das ihr auch eine Behandlung in Frankreich ermöglicht. Doch damit die DAK die Kosten erstattet, soll die französische Kasse zuerst bezahlen. Alle in Frankreich lebenden Menschen gehören der einzigen gesetzlichen Krankenkasse "Caisse primaire d'assurance maladie" (CPAM) an. Protokolliert und abgerechnet wird über die Chip-Karte "Carte Vitale". Bevor sie diese ausstellt, fordert die CPAM verschiedene Dokumente. "Um die Identität von Bürgern festzustellen, die im EU-Ausland geboren sind, brauchen wir eine Geburtsurkunde", erklärt Coralie Batista von der CPAM in Metz.

Doch Gerda Speicher Thiel hat keine Geburtsurkunde. Geboren wurde sie 1945 in der Gemeinde Gocino, die heute zu Polen gehört, aber damals deutsches Gebiet war und Groß-Jestin hieß. Sie erkundigte sich bei den polnischen Behörden, doch im Krieg wurden viele Register verbrannt. Von den Urkunden vor dem Jahr 1946 sei nichts mehr übrig, hieß es aus Polen. Die nächste Anfrage führte nach Berlin, wo das Standesamt I in seiner Funktion als Ersatzstandesamt eine Urkundensammlung für die ehemaligen deutschen Gebiete führt. Dort teilte man Martin Wirtz' Bruder Roland, der in der Hauptstadt wohnt und sich persönlich erkundigte, mit, dass eine Ersatzurkunde nur ausgestellt werden könnte, wenn sich zwei Personen finden, die unter Eid bezeugen würden, dass Speicher Thiel in Groß-Jestin geboren wurde. Die 72-Jährige schilderte der CPAM diesen Sonderfall, doch diese hielt an ihrer Forderung fest: keine Geburtsurkunde, keine "Carte Vitale".

Inzwischen kamen in Etzling Mahnungen an, weil die Krankenhausrechnung nicht beglichen wurde. Einzige Alternative wäre "eine schriftliche Antwort der deutschen Botschaft, die erklärt, warum es unmöglich ist, eine Geburtsurkunde vorzuweisen", sagte Batista von der CPAM auf Anfrage unserer Zeitung.

Wirtz und Speicher Thiel kontaktierten die Botschaft in Paris, die sie an die Deutsche Verbindungsstelle der Krankenkassen Deutschland (DVKA) in Bonn verwies. Dort können sich unter anderem Deutsche über Behandlungsmöglichkeiten in anderen EU-Ländern beraten lassen. Fachberaterin Ute Hummel nahm sich der Akte aus Etzling an. Doch auch sie kam zuerst trotz regen Mailaustauschs mit der CPAM nicht weiter. "Warum die CPAM auf dieser Urkunde beharrt, obwohl wir einen Auszug des Stammbuches und weitere offizielle Dokumente vorgelegt haben, verstehe ich nicht", sagte sie der SZ. Vor allem da die deutsche Kasse die Kosten sowieso erstatten würde, gebe es keinen triftigen Grund, die Aufnahme zu verweigern. Parallel zu ihren Bemühungen empfahl Hummel dem deutschen Paar, die Solvit einzuschalten. Diese Beratungsstelle versucht, pragmatische Lösungen für Probleme von Bürgern zu finden, die durch die fehlerhafte Anwendung von EU-Recht durch Behörden der Mitgliedsländer entstehen können.

 Gerda Speicher Thiel. Foto: Wirtz

Gerda Speicher Thiel. Foto: Wirtz

Foto: Wirtz

Nach sechs Monaten Hin und Her scheint sich nun endlich etwas zu bewegen. "Vor ein paar Tagen hat uns Frau Hummel mitgeteilt, dass Gerda endgültig aushelfend eingeschrieben wird und eine ,Carte Vitale' bekommt", berichtet uns Martin Wirtz erleichtert. Richtig daran glauben wird Gerda Speicher Thiel aber erst, wenn sie ihre "Carte Vitale" in der Hand hält.

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