Sozialrichter fordern Hartz IV auch für Arbeit suchende Ausländer

Mainz · Wie viel soziale Absicherung haben Zuwanderer in Deutschland? Nach Europäischem Recht müssen sie nicht zwingend volle Sozialleistungen erhalten, sagt der EuGH. Nach deutschem Recht aber schon, sagt das Sozialgericht in Mainz.

Das Sozialgericht in Mainz besteht auf ausreichender sozialer Absicherung für Zuwanderer in den deutschen Arbeitsmarkt. Es hat in einem Eilverfahren per Beschluss entschieden, dass der Ausschluss von Arbeitslosengeld II (Hartz IV) für Ausländer verfassungswidrig ist, auch wenn die Betroffenen sich allein zum Zweck der Arbeitsuche in Deutschland aufhalten (Az.: S 12 AS 946/15 ER). Die Richter ordneten deshalb an, dass ein betroffener Spanier nun Hartz IV Leistungen bekommt.

Mit dieser Entscheidung scheinen die Mainzer Richter sich auf den ersten Blick gegen ein Grundsatzurteil des Europäischen Gerichtshofes vom September zu stellen. Der EuGH hatte entschieden, dass - soweit europäisches Recht betroffen ist - die Bundesrepublik Deutschland ausländischen EU-Bürgern auch dann keine Sozialleistungen auf Dauer zahlen muss, wenn sie eine angemessene Zeit gearbeitet haben und dann arbeitslos werden (Az. C-67/14). Danach gilt gemäß der Freizügigkeitsrichtlinie ein abgestuftes System: EU-Bürger die in Deutschland mehr als ein Jahr gearbeitet haben, werden wie Inländer behandelt und haben volle soziale Absicherung. Zuwanderer, die weniger als ein Jahr gearbeitet haben, bekommen nach Verlust des Arbeitsplatzes ein halbes Jahr entsprechende Sozialleistungen. Und EU-Bürger, die in Deutschland erstmals Arbeit suchen, dürfen von Sozialleistungen ausgeschlossen werden. So weit das Ergebnis des EuGH.

Dieses Urteil bezieht sich nach Ansicht des Sozialgerichts aber nur auf die Rechtslage nach europäischem Recht. Es sage nichts darüber aus, ob Arbeit suchende Ausländer in der Bundesrepublik nach deutschem Recht Anspruch auf entsprechende Sozialleistungen haben oder nicht. Diese Frage und die damit verknüpfte Frage nach der Vereinbarkeit eines Leistungsausschlusses für Arbeit suchende Ausländer mit dem Grundgesetz beschäftige die Sozialgerichte derzeit in hohem Maße und sei sehr umstritten.

Das Mainzer Sozialgericht bezieht in diesem juristischen Disput klar Stellung. Es sieht in dem Ausschluss von Hartz IV Leistungen einen Verstoß gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Dieses Grundrecht sei vom Bundesverfassungsgericht aus dem Schutz der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip auf der Grundlage des Grundgesetzes entwickelt worden. Es sei nicht zeitlich befristet. Das Sozialgericht hat das Jobcenter Mainz deshalb im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet, einem erwerbslosen spanischen Staatsangehörigen vorläufig Arbeitslosengeld II (Hartz IV) zu zahlen.

Der Betroffene war nach seiner Einreise im Jahr 2014 einer Erwerbstätigkeit nachgegangen. Nachdem ihm von seinem Arbeitgeber gekündigt wurde, erhielt er zunächst Leistungen vom Jobcenter Mainz. Seinen Weiterbewilligungsantrag lehnte das Jobcenter jedoch ab. Zur Begründung führte es aus, dass der Antragsteller keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts habe. Der Arbeitnehmerstatus gelte für sechs Monate nach Beendigung der Beschäftigung. Diese sechs Monate seien im Falle des Antragstellers abgelaufen. Daraufhin klagte der Mann und bekam vor dem Sozialgericht Recht. Ob sich dessen Linie zu Gunsten der Arbeit suchenden Zuwanderer durchsetzten wird oder nicht, das ist offen. Darüber wird am Ende wohl das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe entscheiden.

ANMERKUNG:
Wenige Tage nach dem Urteil aus Mainz hat das Bundessozialgericht in drei Musterfällen ähnlich argumentiert. Die obersten deutschen Sozialrichter haben klargestellt, dass EU-Bürger beim Aufenthalt in Deutschland auch bei fehlender Freizügigkeitsberechtigung einen Anspruch auf Sozialleistungen haben. Dessen Höhe sei im konkreten Fall jeweils ermessensabhängig. Nach einem Aufenthalt von mindestens sechs Monaten sei dabei regelmäßig zumindest die übliche Hilfe zum Lebensunterhalt zu zahlen. Dazu steht wörtlich in der entsprechenden Presserklärung: "Im Fall eines verfestigten Aufenthaltes - über sechs Monate - ist dieses Ermessen aus Gründen der Systematik des Sozialhilferechts und der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes in der Weise reduziert, dass regelmäßig zumindest Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe zu erbringen ist."

http://juris.bundessozialgericht.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bsg&Art=ps&Datum=2015&nr=14079&pos=1&anz=29

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