„Sag mal, ist das nicht die Bar, in der der Anschlag war?“

Tel Aviv · Israel wird seit Jahren und Jahrzehnten von Terroranschlägen erschüttert, doch die Israelis haben gelernt, emotional damit umzugehen. So auch unsere Mitarbeiterin in Tel Aviv. Hier schildert sie ihren Alltag im Zeichen des Terrors.

Wir hatten erst gar nicht daran gedacht. Es war das unschlagbare Happy-Hour-Angebot, das uns in diese Bar auf der Dizengoff-Straße lockte, eine gute Freundin und mich, an einem Tel Aviver Sommerabend vor einigen Wochen. Als wir den ersten Schluck von unserem Goldstar, dem israelischen Bier, nahmen, sagte die Freundin: "Sag mal, ist das nicht die Bar, in der im Januar der Anschlag war? Bei dem zwei junge Männer erschossen wurden?" Wir blickten uns an, googelten schnell mit unseren Smartphones, um den Namen der Bar nachzusehen. Tatsächlich. Simta. Hier war es passiert.

Kurz schoss mir der Gedanke in den Kopf: Israel, Terrorgefahr , Messerattacken - und ich hier, mittendrin. Was mache ich hier eigentlich? Doch genauso blitzartig, wie dieser Gedanke mir manchmal kommt, so schnell verschwindet er auch wieder.

So ist Israel. Der Terror ist allgegenwärtig, aber das Leben geht weiter, nach jeder Attacke. "Unsere größte Herausforderung ist es, ein normales Leben zu führen", sagt der israelische Psychologe und Traumaexperte Yotam Dagan. Das heißt: widerstandsfähig zu sein und zur Normalität zurückzukehren. Stunden nach einer Terrorattacke sind die Straßen meist wieder aufgeräumt, die Läden geöffnet. Man hört noch ein paar Stunden, einen Tag lang, in den Nachrichten darüber. 2013 habe ich die Terrorattacke beim Boston Marathon erlebt. Dort war die Stadt für Tage gesperrt."

Israelis haben es zu oft erlebt, als dass sie sich jedes Mal einen Ausnahmezustand erlauben könnten - weder auf den Straßen noch im Herzen. Es wäre ja auch unerträglich, angsterstarrt durchs Leben zu gehen - oder noch schlimmer: zu Hause zu bleiben. Seit knapp fünf Jahren lebe ich nun schon in Israel, das erste halbe Jahr in Jerusalem, heute in Tel Aviv . Seither sind zwei Gazakriege geführt worden, seit September 2015 haben Terroristen 156 Mal versucht, Menschen zu erstechen, 98 Mal, zu erschießen, und 46 Mal, sie mit dem Auto zu überfahren. 40 Menschen sind dabei ums Leben gekommen, so teilt es das israelische Außenministerium mit.

Für Menschen wie meinen besten Freund Yaaron, der nach der Armee als Bodyguard gearbeitet hat und einen Waffenschein besitzt, bedeutet es, dass er das Haus nicht mehr ohne Waffe verlässt. "Ich sehe es als meine Aufgabe, im Notfall einzugreifen und Leben zu retten", sagt der 29-Jährige. Es ist seine Art, mit dem Terror umzugehen und sich sicherer zu fühlen. Und er ist damit nicht allein: Als sich die Messerattacken Ende vergangenen Jahres plötzlich häuften, sind die Anträge für einen Waffenschein um ein 50-Faches gestiegen, so meldete es damals die Tageszeitung Haaretz. Gleichzeitig rief unter anderem Jerusalems Bürgermeister Nir Barkat Zivilisten mit Waffenschein wie Yaaron dazu auf, Waffen bei sich zu tragen.

Ja, der Terror ist auch Teil meines Lebens geworden. Aber ich lasse mich davon, wie viele andere Israelis auch, nicht einschränken. Ich fahre weiterhin mit dem Bus oder mit der Straßenbahn in Jerusalem. Ich gehe weiterhin in die Altstadt. Und treffe mich mit Freunden in Bars und Restaurants. Nicht, weil ich besonders mutig oder töricht wäre, sondern weil diese Orte längst Teil meines Lebens in Israel geworden sind und ich sonst überhaupt nicht mehr vor die Haustür treten dürfte. Ich habe in Israel ein Gottvertrauen und eine Gelassenheit entwickelt, die ich vorher nicht von mir kannte. Nicht, dass ich seither leichtsinnig mein Leben riskiere. Aber mir ist klar geworden, dass ich nicht alles bis aufs Letzte lenken und beeinflussen kann. Ich kann vorsichtig sein, aber ich kann kaum wissen, ob ich heute zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort sein werde. Darum sage ich mir, was alle Israelis gerne sagen: Hacol ihie beseder - alles wird gut. Nun ist der Terror auch in Europa angekommen. Wie viele Israelis bin ich gespannt, ob von nun an auch dort der Terror zum Alltag gehören wird und wenn ja, wie er die Gesellschaften verändern wird.

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