Wie würden Sie entscheiden?

Saarbrücken · Das Fernsehen wird moralisch: Zuschauer sollen entscheiden, wie sie sich verhalten würden, wenn es um Leben und Tod geht. Das Gerichtsdrama „Terror – ihr Urteil“ behandelt die schwierige Frage, ob man ein entführtes Passagierflugzeug im Notfall abschießen darf.

Jakob von Metzler war elf Jahre alt, als Magnus Gäfgen ihn 2002 in Frankfurt entführte. Der Täter verlangte ein Lösegeld von einer Million Euro, sonst würde er den Bankierssohn töten. Als Gäfgen drei Tage nach der Entführung gefasst wurde, gab er im Polizeiverhör nicht preis, wo das Kind sich befand. Daraufhin nahm sich Wolfgang Daschner, Vizepräsident der Frankfurter Polizei , den Jura-Studenten vor. Er drohte ihm Folter an, wenn er nicht den Aufenthaltsort des Entführten angeben sollte. Gäfgen werde unerträgliche Schmerzen und sexuelle Gewalt mit "zwei Negern in einer Zelle" erleben. Danach würde er sich wünschen, nie geboren worden zu sein. Der Entführer brach zusammen und gab den Ort preis. Dort dümpelte die Kindsleiche unter dem Steg eines Weihers.

Wolfgang Daschner wurde wegen seiner Androhung zur "Anwendung unmittelbaren Zwanges" 2004 vom Landgericht Frankfurt zu einer Geldstrafe verurteilt. Vor Gericht berief er sich auf die Abwehr einer drohenden Gefahr. Daschner stand bis zuletzt zu seinem Verhalten. Er wäre als Gesetzesvertreter zum Gesetzesübertreter geworden, in der Hoffnung, ein junges Leben zu retten. Für manche war er ein eiskalter Apparatschik, für andere ein Held.

Darf ein Leben mit dem Leben anderer aufgewogen werden? Wer sich dieser komplexen Frage stellt, kommt schnell in eine verzwickte Lage. Denn was zählt mehr: der Wert unserer grundlegenden Rechtsprinzipien, in der Verfassung verbürgt, oder das pragmatische Ziel, ein größeres Unheil abzuwenden? Hätten Jagdflugzeuge der US-Army am 9. September 2001 die beiden Flugzeuge samt den islamischen Terroristen und allen Passagieren abgeschossen, hätte es in den beiden Türmen des World Trade Centers in New York nicht an die 3000 Opfer gegeben.

Menschen stehen immer wieder vor der Aufgabe, Interessen gegeneinander abzuwägen. Da muss eine Behörde entscheiden, ob an einer unfallträchtigen Stelle eine Millionensumme in die Verkehrssicherheit investiert werden soll, um etwaige weitere Unfallopfer zu vermeiden. Da muss ein Arzt in der Klinik entscheiden, wann die Geräte, die einen Patienten am Leben erhalten, obwohl er seit Wochen im Koma liegt, abgeschaltet werden. Da müssen Rettungssanitäter nach einem Unfall entscheiden, wem sie zuerst helfen: einer Mutter mit Kind oder einem alten Ehepaar. Nun auch im deutschen Fernsehen. Das Gerichtsdrama "Terror - Ihr Urteil" ist ein Film mit Deutschlands Schauspielerelite. Es geht um den Abschuss einer von islamistischen Terroristen entführten Passagiermaschine, die diese in die Münchner Allianz Arena mit 70 000 Fans steuern wollen. Der angeklagte Major Koch (Florian David Fitz ) hat den Airbus mit einer Rakete vom Himmel geholt. Beim Absturz sind alle 164 Passagiere umgekommen, aber dadurch ist womöglich ein schrecklicheres Blutbad verhindert worden.

Major Koch kennt die Gesetze und hat dennoch gegen den Befehl seines Vorgesetzten gehandelt und sich damit schuldig gemacht. Seine ethische Entscheidung fiel zugunsten vieler aus. Er verteidigt sich, er habe sich im "übergesetzlichen Notstand" befunden. Richter (Burghart Klaußner ) Verteidiger (Lars Eidinger) und Staatsanwältin (Martina Gedeck ) wirken unsicher. Nun soll der Zuschauer als Schöffe urteilen, das ganze TV-Publikum wird zur Abstimmung aufgefordert.

Schuld hieße: mehrfacher Mord, lebenslänglich für Major Koch. Schuldlos hieße: Der Bundeswehroffizier ist ein freier Mann. Der Richter schaut direkt in die Wohnzimmer und spricht Millionen Zuschauer an: "Urteilen Sie ausschließlich nach dem, was Sie selbst für richtig halten." Danach eine Live-Sendung "Hart aber fair" in der Moderator Frank Plasberg mit seinen Gästen über das Thema diskutiert.

Es ist absehbar, dass die Mehrheit Major Koch entlasten wird: "unschuldig". Das gleichnamige Theaterstück des schreibenden Juristen Ferdinand von Schirach, das vor einem Jahr in Berlin Premiere hatte und inzwischen bundesweit an mehr als 50 Theatern auf die Bühne kam, hatte ein klares Finale. Mehr als 153 000 Zuschauer entschieden sich für "unschuldig". Das Telefon- oder Online-Voting heute Abend wird wohl ein ähnliches Ergebnis bringen. In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht anders entschieden. Ein Flugzeug, das als Waffe missbraucht wird, darf nicht abgeschossen werden, wenn neben den Tätern weitere Menschen an Bord sind.

Der FDP-Politiker Burkhard Hirsch hat sich im vergangenen Jahr nach der Uraufführung von Schirachs Stück kritisch geäußert. Er sieht die fiktive Realität als verfälschte Wirklichkeit. Hier würden Zuschauer zu Richtern erhoben, ohne die eigentliche Konfliktlage erfassen zu können. Die Zuschauer seien mit den Plädoyers überfordert.

Das Theaterstück "Terror" von Ferdinand von Schirach wird auch am 26. Oktober um 20 Uhr in der Neunkircher Gebläsehalle aufgeführt. Es handelt sich um eine Tourneetheaterproduktion. Karten sind über Ticket regional erhältlich. Tel. (06 51) 9 76 07 77

Ein Film stellt große Fragen

Fernsehpublikum soll über Schuld und Unschuld entscheiden

Das TV-Gerichtsdrama "Terror - Ihr Urteil" über den Abschuss einer von islamistischen Terroristen entführten Passagiermaschine wird heute um 20.15 Uhr (ARD ) in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Slowenien und Tschechien ausgestrahlt - und zwar zeitgleich. Im Anschluss sind Live-Diskussionen geplant. In Deutschland moderiert Frank Plasberg eine "Hart aber fair"-Sondersendung (21.40 Uhr, ARD ) zum Themenabend.

Das Besondere: Millionen TV-Zuschauer können nach der Ausstrahlung das Urteil fällen: Sie entscheiden quasi als Schöffen per Telefon- oder Online-Voting, ob der Angeklagte schuldig gesprochen werden soll.

Das Urteil: Beide Versionen - schuldig oder nicht schuldig - sind vorgedreht. Die Zuschauer stimmen nach den Plädoyers mehrere Minuten lang ab. Dann wird das Urteil gezeigt.

Die Vorlage: Das gleichnamige Erfolgstheaterstück des Autors und Juristen Ferdinand von Schirach, das im Oktober 2015 am Deutschen Theater in Berlin Uraufführung feierte, wurde fürs Fernsehen adaptiert. Viele Bühnen nicht nur in Deutschland zeigen das Theaterstück. Stets fällen die Besucher das Urteil. Der Verlag Kiepenheuer & Witsch verzeichnet fortlaufend im Internet den aktuellen Stand. Zuletzt hatten von etwa 153 000 Zuschauern rund 60 Prozent den Piloten freigesprochen. In 429 Aufführungen in Deutschland wurde der Pilot 402 mal freigesprochen.

Abstimmen: Am TV-Abend können Zuschauer ihr Urteil abgeben: Das ist unter zwei Telefonnummern möglich: Für "Schuldig" Tel. (01 37) 1 02 20 01, für "Unschuldig" (01 37) 1 02 20 02. Abstimmen kann man auch auf der Internetseite von "Hart aber fair".

 Pilot Lars Koch (Florian David Fitz) muss sich für den Abschuss eines entführten Flugzeugs verantworten. Fotos: ARD

Pilot Lars Koch (Florian David Fitz) muss sich für den Abschuss eines entführten Flugzeugs verantworten. Fotos: ARD

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