Das Königreich reicht die Scheidung ein

London · Neun Monate nach dem Brexit-Votum sendet Großbritanniens Premier May heute den offiziellen Austritts-Brief an die EU. Danach tickt die Uhr – bis 2019.

 Alles andere als einer Sternstunde der EU: Zum ersten Mal in der Geschichte verlässt ein Mitglied die europäische Familie. Grafik: Lorenz

Alles andere als einer Sternstunde der EU: Zum ersten Mal in der Geschichte verlässt ein Mitglied die europäische Familie. Grafik: Lorenz

Es ist ein historischer Brief, den ein britischer Diplomat heute Ratspräsident Donald Tusk in Brüssel überbringt. Absender: Premierministerin Theresa May. Mit dem von ihr unterzeichneten Schreiben beantragt die Regierungschefin formell den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU. Und damit tickt zumindest theoretisch die Uhr. Artikel 50 des Lissaboner Vertrags bietet den Briten und den restlichen 27 Mitgliedstaaten zwei Jahre Zeit, ein Prozedere für eine einvernehmliche Scheidung zu finden. Die Verhandlungen könnten sich jedoch viel länger hinziehen, wie Diplomaten, Politiker und Experten schon jetzt prophezeien.

Es ist das erste Mal in der Geschichte der Staatengemeinschaft, dass ein Land die Scheidung einreicht und Verflechtungen aus 40 Jahren zu entwirren, dürfte sich zu einer Herkulesaufgabe entwickeln. Auch wenn die Brexit-Befürworter es kaum noch erwarten können, bis May das Verfahren auslöst. Die Briten stehen unter gehörigem Druck. Sie müssen wirtschaftspolitische Trennungslösungen mit Brüssel aushandeln, sonst steht das Königreich handelspolitisch vor einem Problem. Dass "kein Deal besser als ein schlechter Deal" sei, wie es in den vergangenen Wochen aus Westminster hieß, sollte eine Warnung an Brüssel aussenden und Selbstbewusstsein fürs Volk ausstrahlen.

Hinter den Kulissen rudert die Regierung aber bereits zurück. May weiß, dass kein Abkommen mit der EU schwere Auswirkungen auf die Wirtschaft hätte. Ob sie weiterhin ihre kompromisslose Linie verfolgen wird, nach der Großbritannien sowohl aus der Zollunion austreten als auch die Mitgliedschaft im gemeinsamen europäischen Binnenmarkt aufkündigen würde, wird sich zeigen. Großbritannien befindet sich in einer schwachen Verhandlungsposition. Als einen der Trümpfe in der Hand betrachten einige Politiker zum Leidwesen der Betroffenen die mehr als drei Millionen EU-Bürger im Königreich. May hatte zwar wiederholt erklärt, sie werde sich für einen Verbleib der auf der Insel lebenden Menschen aus anderen Mitgliedstaaten einsetzen. Garantien lehnte sie jedoch ohne entsprechende Zusagen für im EU-Ausland wohnende Briten ab.

Das Thema treibt auch Martin Knight um. Seit elf Jahren leitet der 49-Jährige in High Wycombe, eine halbe Zugstunde von der Hauptstadt entfernt, sein Architektenbüro "Knight Architects". Den Briten trifft der Brexit schwer. "Es ist äußerst wichtig, Menschen aus Europa hier zu haben", sagt er und zeigt in das Großraumbüro, wo seine kreativen Köpfe sitzen. Darunter: zwei Deutsche, drei Spanier, zwei Franzosen, ein Italiener. Sie alle machen sich nun Sorgen um ihren künftigen Status im Königreich. "Es sind Menschen, die mir vertraut haben, und sie verdienen es, dass wir uns um sie kümmern", sagt Knight, der sich seinen Mitarbeitern verpflichtet fühlt - und sie schlichtweg nicht verlieren will.

Wie etliche Branchen, etwa der Bausektor, die Gastronomie oder das Gesundheitswesen, ist auch Knight darauf angewiesen, "hochqualifizierte Arbeitskräfte" aus Europa zu rekrutieren. Hinzu kommt, dass sich ein großer Teil des Geschäfts in der EU abspielt. Knight denkt darüber nach, bald eine Zweigstelle auf dem Festland zu eröffnen. Und steht damit nicht alleine da. Die Wirtschaftswelt hat Notfallpläne bereits in der Schublade, wie es heißt. "Wir können nicht warten, bis die Politik eine Entscheidung trifft", sagt Knight.

Entschieden werden muss nun auch, welche Zahlungen das Königreich noch leisten muss. Die EU besteht bislang darauf, dass London bereits eingegangene finanzielle Verpflichtungen erfüllt. Hier geht es etwa um Pensionszahlungen für EU-Beamte oder zugesagte Beiträge für den Brüsseler Haushalt. Die Summe könnte sich auf bis zu 60 Milliarden Euro belaufen, heißt es. May und Außenminister Boris Johnson haben solchen Forderungen bereits eine Absage erteilt. Mal sehen, ob es am Ende dabei bleibt.

Zum Thema:

Warum der Brexit auch Deutschland trifft Die deutsche Wirtschaft wird durch den EU-Austritt der Briten einen herben Dämpfer erhalten, warnt der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK). "Der Brexit wird den Geschäften deutscher Unternehmen mit dem Vereinigten Königreich erheblich schaden", sagte DIHK-Präsident Eric Schweitzer gestern. Grund seien beispielsweise höhere Kosten durch Zölle und Steuern sowie mehr Bürokratie. Viele Unternehmen seien deshalb verunsichert. Auch andere Wirtschaftsverbände forderten zügige Brexit-Verhandlungen, um schnell Klarheit zu schaffen.

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