Der Spiegel wird 70

Frankfurt · „Journalistischer Taktgeber“, „Vorbild für Recherche und Vertiefung“ – „Der Spiegel“ hat die politische Landschaft in Deutschland mitgeformt. Jetzt wird das Magazin 70 und hat mit den Umwälzungen in der Medienlandschaft zu kämpfen.

"2016 lehrt uns, dass es ernst ist", schreibt "Spiegel"-Chefredakteur Klaus Brinkbäumer am Ende des Jahres, das das 70. war in der Geschichte des Nachrichtenmagazins. Die Demokratie werde attackiert, Populisten wollten die Freiheit einschränken und die freie Presse abschaffen. "Wir lernen, dass wir für die Demokratie streiten müssen", heißt es in Brinkbäumers Leitartikel. Das sollte nichts Neues sein für den "Spiegel". Streiten gehört zur DNA des Magazins, das sein Gründer Rudolf Augstein (1923-2002) zur kritischen Instanz im Nachkriegsdeutschland machte. Als am 4. Januar 1947 in seiner Heimatstadt Hannover der erste "Spiegel" erschien, war Augstein erst 23 Jahre alt. "In der Ära Adenauer waren wir das Sturmgeschütz der Demokratie , mit verengten Sehschlitzen", sagte er ebenso selbstbewusst wie selbstironisch.

Im Winter 1962/63 saß Augstein 103 Tage in Haft, weil sein Blatt in dem Artikel "Bedingt abwehrbereit" detailliert über das Nato-Planspiel "Fallex 62" berichtet hatte. Wegen des Vorwurfs des Landesverrats durchsuchten Kriminalbeamte die Redaktionsräume und hielten sie wochenlang besetzt. Die "Spiegel-Affäre" kostete am Ende Verteidigungsminister Franz Josef Strauß (CSU ) das Amt. Auch sonst stolperte mancher über die Enthüllungen aus Hamburg, wohin die Redaktion 1950 umgezogen war: Barschel-Affäre, Parteispenden-Skandal - "Der Spiegel " hat die politische Landschaft mitgeformt und ist weiter die auflagenstärkste Wochen-Zeitschrift im Informations-Segment. Wie andere Medienhäuser muss aber auch der "Spiegel"-Verlag, der mehrheitlich seinen Mitarbeitern gehört, Einbußen hinnehmen. Vor zehn Jahren lag die verkaufte Auflage des Magazins noch bei einer Million, nun sind es nur noch knapp 800 000. Erstmals in der Geschichte des stolzen Verlags, der seit 2012 in einem repräsentativen Bau in der Hafencity residiert, sollen im nächsten Jahr bis zu 35 betriebsbedingte Kündigungen ausgesprochen werden.

Dabei war die Umwälzung der Medienlandschaft frühzeitig erkannt worden. Das bereits 1994 gestartete Portal "Spiegel Online" hat nach Verlagsangaben monatlich 18,7 Millionen Nutzer und zählt zu den reichweitenstärksten Seiten. Doch die journalistischen Angebote im Netz sind weitgehend kostenlos. Der Verlag bastelt immer noch an einem digitalen Bezahlmodell und probiert es zugleich mit weiteren Ablegern: Nach dem Jugendportal "bento" soll im Frühjahr "Spiegel Classic" an die Kioske kommen, eine Zeitschrift für "Männer und Frauen in den besten Jahren".

Die Herausforderungen im Internet-Zeitalter zu bewältigen, wird durch die anhaltende Unruhe im eigenen Haus nicht leichter: Print und Online finden nur mühsam zueinander. Anfang Dezember musste Online-Chef Florian Harms seinen Stuhl räumen, was Mitarbeiter vergeblich mit einem Protestschreiben zu verhindern versucht hatten. Die Probleme, Führungspositionen dauerhaft zu besetzen, sind mittlerweile notorisch: Brinkbäumer folgte vor zwei Jahren auf Wolfgang Büchner, der wiederum die zerstrittene Doppelspitze Georg Mascolo und Mathias Müller von Blumencron abgelöst und es sich nach nur 15 Monaten mit den Redaktionen verscherzt hatte. So war das einstige "Sturmgeschütz" zuletzt ausgiebig mit sich selbst beschäftigt.

Über seine Strahlkraft lässt sich nach wie vor streiten. Das Magazin sei "immer noch ein journalistischer Taktgeber und ein Vorbild für Recherche und Vertiefung", sagt ZDF-Chefredakteur Peter Frey . Der Medienkritiker Lutz Hachmeister sieht das anders: "Das publizistische Leitmedium unserer Tage ist Twitter - da relativiert sich die Bedeutung aller einzelnen Blätter." Die Eliten nähmen den "Spiegel" immer noch überdurchschnittlich wahr. Auch arbeiteten dort mehr gut ausgebildete Journalisten denn je. "Mit Getöse dargebotene Titelgeschichten über Fußballer, die Steuern sparen wollen, kann man sich aber sparen", sagt Hachmeister. Er kritisiert den "alarmistischen, volatilen Ton vieler Titelgeschichten". Und "Spiegel Online", urteilt Hachmeister, beschädige in seiner derzeitigen Verfassung das Renommee der Gesamtmarke.

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Hintergrund Durch den Strukturwandel in der Medienbranche hat auch "Der Spiegel " über Jahre an Auflage eingebüßt und verkaufte zuletzt 789 062 Exemplare (3. Quartal 2016). Der Titel erreicht zusammen mit "Spiegel Online" wöchentlich mehr als 13 Millionen Menschen: auf Papier, im Internet und mobil, teilte der Verlag mit. Die Mediengruppe, zu der auch Spiegel TV, das "Manager Magazin" und "Harvard Business Manager" gehören, setzte 2015 rund 285 Millionen Euro um. Sie beschäftigte im selben Jahr 1129 Mitarbeiter. Durch ein Sparprogramm, das auch einen Stellenabbau umfasst, sollen von 2018 an dauerhaft 15 Millionen Euro gespart werden. dpa

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