Der Brexit belastet die Berliner Koalition

Der Blick in den Kalender für die neue Woche verheißt für Angela Merkel nichts Gutes: Krise, Krise, Krise. Zunächst einmal wegen eines Konflikts, den viele in Europa fast schon wieder aus den Augen verloren haben. Für anderthalb Stunden kommt Wladimir Groisman, der neue Ministerpräsident der Ukraine, zum Antrittsbesuch. Und gleich wenn der Gast aus Kiew weg ist, geht es um die neueste Krise, eine von ganz anderer Dimension: den Brexit. Heute hat die Bundeskanzlerin nach und nach EU-Ratspräsident Donald Tusk , Frankreichs Präsident François Hollande und Italiens Regierungschef Matteo Renzi zu Gast. Morgen hält sie eine Regierungserklärung zum Brexit. Dann fliegt Merkel zum ersten EU-Gipfel der neuen Zeitrechnung nach Brüssel. Dort kommt es auch zum Wiedersehen mit Briten-Premier David Cameron , dem größten Stimmungstöter in der Geschichte der EU.

Außenminister Steinmeier (SPD) drängt auf einen schnellen Brexit, Kanzlerin Merkel (CDU) will dagegen nichts überstürzen. Foto: Kumm/dpa

Außenminister Steinmeier (SPD) drängt auf einen schnellen Brexit, Kanzlerin Merkel (CDU) will dagegen nichts überstürzen. Foto: Kumm/dpa

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Mit dem Austritts-Beschluss der Briten ist für Merkel ein Albtraum wahrgeworden. Das Nein zur EU trifft sie ins Mark. Jetzt muss sie sich im allgemeinen Interesse darum bemühen, den Schaden halbwegs zu begrenzen. Die Erwartungen sind enorm. Auf der ganzen Welt. Das ist eine Aufgabe für die Langstrecke. Merkel selbst spricht von "Tagen, Wochen, Monaten und Jahren", bis die Folgen für die künftig nur noch 27 EU-Partner deutlich sind. Ob sie das selbst noch im Amt erlebt?

Klar ist aber auch, dass nicht übermäßig Zeit zum Nachdenken bleibt. Eine Phase des Nichtstuns kann sich die EU jetzt nicht leisten. Die Gefahr, dass das gesamte Konstrukt auf die schiefe Ebene gerät, ist einigermaßen groß. Die Frage ist nur: Wie schnell muss nach dem ersten Schock der Reformprozess für die EU jetzt beginnen? Und: Von wem soll die Initiative ausgehen? Darüber gibt es auch innerhalb der Bundesregierung - zwischen Union und SPD , aber auch zwischen den Häusern - unterschiedliche Auffassungen. Auf Initiative von Frank-Walter Steinmeier kamen gleich am Samstag in Berlin die Außenminister der sechs EU-Gründerstaaten zusammen. Mit dem französischen Kollegen Jean-Marc Ayrault präsentierte der SPD-Mann auch schon ein Papier, wie es mit der EU weitergehen könnte. "Wir dürfen jetzt nicht so tun, als seien alle Antworten schon bereit", meint Steinmeier. "Wir dürfen aber auch nicht in Depression und Untätigkeit verfallen." Im Kern geht es beim Vorschlag der beiden Sozialdemokraten darum, die EU flexibler zu machen: mehr Spielraum für Länder, die bei bestimmten Themen weitere Integrationsschritte nicht mitgehen wollen oder können.

Weiter heißt es in dem Zehn-Seiten-Papier, die EU müsse sich auf die großen gemeinsamen Herausforderungen konzentrieren - "und alle anderen Themen nationalen oder regionalen Entscheidungsprozessen überlassen". Eine Reihe von Vorhaben soll beweisen, dass die Union im Alltag der künftig nur 444 Millionen Bürger doch Fortschritte bringt. An dem Papier hatten die Leute von Ayrault und Steinmeier schon seit April gearbeitet - wenn die Briten sich fürs Drinbleiben entschieden hätten, hätte es eine abgespeckte Version gegeben. Das Kanzleramt wurde von der endgültigen Fassung erst am Freitag in Kenntnis gesetzt, als der Beschluss der Briten feststand. Abgesehen von der unterschiedlichen politischen Herkunft der Chefs lässt sich das auch mit Konkurrenzgehabe zwischen den Häusern erklären.

In der Analyse, wie die EU verändert werden muss, liegt man innerhalb der Bundesregierung vermutlich nicht allzu weit auseinander. In der Methode schon: Merkel zweifelt, dass das Gründerstaaten-Format am besten geeignet ist, zu einer gemeinsamen Haltung aller 27 zu kommen. Schon vor dem Referendum machte sie deutlich, dass sie von "Untergruppen" wenig hält. Denn Länder wie Polen, Ungarn oder die Balten-Republiken fühlen sich durch das Sechser-Treffen ausgegrenzt.

Aus ihrer Enttäuschung über das Votum der Briten macht Merkel keinen Hehl. Nach bald elf Jahren im Kanzleramt hat sie als europäische Krisenmanagerin gewisse Erfahrung, auch darin, schlechte Laune zu überspielen. In Potsdam aber ist ihr Unmut deutlich. Auf die Frage, ob die Folgen des Brexits andere austrittswillige Länder abschrecken könnten, antwortet sie: "Die Frage von Abschreckung finde ich in dem Zusammenhang eigentlich falsch." Die Traurigkeit sei kein Grund, bei den Verhandlungen über die Trennung "in irgendeiner Weise jetzt besonders garstig zu sein". Hintergrund sind Überlegungen, wie man die Briten weiter an die EU binden kann.

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