Europa vor stürmischen Zeiten

Nach Feiern wird der EU nicht zumute sein, wenn sie sich am 25. März 2017 in Rom trifft. Dort, wo vor 60 Jahren die Römischen Verträge zur Gründung der Gemeinschaft unterschrieben wurden, wird man nicht nur über Erfolge reden, über die längste Friedensperiode dieses Kontinents, sondern sich auch die Haare raufen über jenen Brief, der einige Tage zuvor aus London eingehen dürfte: "Hiermit erklärt das Vereinigte Königreich seinen Austritt aus der Europäischen Union nach Artikel 50 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU." So oder ähnlich könnte das Schreiben lauten. Unterschrift: Theresa May, Premierministerin.

 Bedrohlich weht die Fahne vor dem EU-Parlament: Im Plenum ist die Stimmung nach dem Briten-Ausstieg und dem europaweiten Vormarsch der Populisten nicht besser. Fotos: dpa

Bedrohlich weht die Fahne vor dem EU-Parlament: Im Plenum ist die Stimmung nach dem Briten-Ausstieg und dem europaweiten Vormarsch der Populisten nicht besser. Fotos: dpa

Wa s auch immer die Union für ihre 508 Millionen Bürger erreicht hat - es genügte nicht, um die Briten zu halten. 18 Monate lang geht es anschließend um die Formalitäten des Austritts, mit dem niemand Erfahrung hat. Nie zuvor musste man einen Mitgliedstaat abwickeln, ihm wieder den Status eines Drittlandes geben, das noch dazu den freien Zugang zum Binnenmarkt haben, aber die Freizügigkeit verhindern will. Die 27 Staats- und Regierungschefs sind sich mit der Kommission und dem Parlament einig: Darauf darf man sich auf keinen Fall einlassen.

2017 gehört zu den Jahren, die man schon vor dem Neujahrstag als große Herausforderung bezeichnen darf. Das Verhältnis mit der Türkei muss geregelt werden, Anfang März steht dazu ein Sondergipfel auf dem Programm. Längst gibt es hinter den Kulissen erstaunliche Signale, wie die festgefahrenen Gespräche um einen Beitritt wieder in Gang gebracht werden sollen. Ankara hat angeblich sogar eine EU-konforme Reform des Anti-Terror-Paragraphen nicht mehr ausgeschlossen, um in den Genuss der visafreien Einreise zu kommen.

Im Falle einer Einigung bliebe das Flüchtlingsabkommen unangetastet. Das scheint für Griechenland überlebenswichtig. Denn dorthin dürfen ab März wieder Asylsuchende zurückgeschickt werden, wenn sie über Hellas in die EU geflohen sind. Das umstrittene Dublin-Abkommen mit seiner Regelung, dass das Land für einen Hilfesuc henden zuständig, über das er eingereist ist, soll wiederhergestellt werden.

Nächster Schritt: Aufhebung der temporären Grenzschließungen. Nichts wünscht man sich in Berlin mehr, möglichst noch vor den Bundestagswahlen im Herbst. Zuvor haben schon Frankreich, die Niederlande, Italien, Zypern und die Slowakei eine neue Regierung bestimmt. In allen Ländern sollen Populisten, Rechtsnationale und EU-Gegner möglichst in Schach gehalten werden. Wer das will, braucht Ergebnisse, Fortschritte, Durchbrüche. Wie diese erreicht werden sollen, ist offen. Zu viel scheint in Bewegung.

Schon am 17. Januar wird das innereuropäische Gleichgewicht neu ausbalanciert. An diesem Tag wählt das Europäische Parlament einen neuen Präsidenten. Martin Schulz geht nach fünf Jahren. Es gibt drei Kandidaten. Keiner kann es werden, wenn nicht einer zurückzieht. Keiner kann es werden, wenn die beiden anderen sich absprechen. Wer es am Ende wird, muss sich mit dem Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker neu verständigen. Das könnte nicht einfach werden, weil der längst öffentlich bestätigt hat, dass er nach dem Ende seiner fünfjährigen Amtszeit 2019 nicht noch einmal antritt. Das macht frei, Juncker wird durchregieren können, soweit ihn die Staats-und Regierungschefs lassen.

Eine Machtprobe zwischen den Gremien, die die EU im kommenden Jahr wirklich nicht brauchen kann. Zumal für Beschlüsse Koalitionen nötig sind, egal in welcher EU-Behörde. Der deutsche EU-Kommissar, Günther Oettinger , der ab dem 1. Januar für die Haushaltsmittel zuständig ist, muss sehen, wie er die vielfältigen Wünsche finanziert bekommt. Denn der neue Ausgabenrahmen wurde um sechs Milliarden Euro gekürzt. Dabei plant die Union, noch mehr afrikanischen Staaten unter die Arme zu greifen, damit sie keine Flüchtlinge mehr rauslassen. Außerdem will Brüssel endlich dem Juncker-Investitionsprogramm - offiziell heißt das Paket "Europäischer Fonds für strategische Investitionen (EFSI)" - zum Durchbruch verhelfen. 620 Milliarden Euro erhofft man sich aus europäischen und privaten Mitteln, um Jobs zu schaffen und grenzüberschreitende Projekte anzustoßen. Die Pläne für ein Interrail-Ticket für 18-jährigen EU-Bürger sind weit gediehen. Auch das kostet dreistellige Millionensummen.

Beim Klimaschutz müssen gemeinsame Ziele vereinbart werden, um das Pariser Abkommen einzuhalten. Neue Abgas-Grenzwerte für Pkws treten am 1. September in Kraft - sie sind so streng, dass auch Benziner auf Dauer mit Rußpartikelfilter ausgeliefert werden sollen. Europas Programm ist lang, ehrgeizig und voller Stolpersteine. Dabei darf sich die Union 2017 eines ganz sicher nicht leisten: Stillstand oder blanken Streit. Die Gefahr, dass die Wähler in d en wichtigen Mitgliedstaaten ausbleibende Lösungen mit Abwanderung zu den politischen Rändern bestrafen, ist viel zu groß.

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Auf einen Blick Die EU muss nach Ansicht von Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD ) vom Einstimmigkeitsprinzip wegkommen und auf Mehrheitsentscheidungen setzen. "Das funktioniert aber nur, wenn man das nicht nur dann gut findet, wenn man sich selbst gerade in der Mehrheit befindet." Die EU müsse in der Lage sein, institutionell auf Herausforderungen zu reagieren, sagte Deutschlands Bevollmächtigter für die deutsch-französische kulturelle Zusammenarbeit. Dazu zähle, "wie wir mit der Verschuldungskrise einzelner Länder umgehen und wie wir die Sicherheit unserer Bürger selbst gewährleisten können". dpa

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