Brexit-Begeisterung in der „Achselhöhle der Welt“

Castle Point · Junge Londoner sind entsetzt über ihre Heimat, die aus der EU austreten will. Eine gute Zugstunde entfernt eine andere Welt: Hier jubeln die Menschen noch zwei Wochen nach der Abstimmung. Worüber genau?

 In den Straßen der Kleinstadt Castle Point herrscht Anti-EU-Stimmung und Angst vor Massen-Einwanderung. Foto: Dapp/dpa

In den Straßen der Kleinstadt Castle Point herrscht Anti-EU-Stimmung und Angst vor Massen-Einwanderung. Foto: Dapp/dpa

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Vor Sams kleinem Reifengeschäft warten Kunden in der Sonne, aber über den Brexit spricht er trotzdem gern. "Das war genau richtig so", sagt der tätowierte, rotbärtige Engländer, während er einen Autoreifen auf eine Felge zieht. "Brüssel ist total korrupt." London auch, fügt er hinzu, aber Brüssel noch mehr. "Wir sind eine Insel, das ist unsere Stärke. Niemand hier will die EU." Das sieht Tammy in ihrem Café zehn Meter weiter genauso. "Ich habe mein ganzes Leben noch nicht gewählt", sagt die blondierte und blauäugige Mittdreißigerin trotzig, "aber im Referendum schon, endlich ging es mal um was. Wir brauchen niemanden."

Dass ohne die EU etwas besser wird, glaubt sie nicht, "aber darum ging es ja auch nicht". Sam und Tammy leben in Castle Point in der südenglischen Grafschaft Essex, eine gute Zugstunde von London entfernt. Während sich in der Hauptstadt jetzt, nach dem Referendum , junge Leute EU-Fahnen ins Gesicht malen und den Austritt verhindern wollen, sind sie in Castle Point zufrieden. Fast 73 Prozent stimmten in diesem Bezirk am 23. Juni für den Brexit, der dritthöchste Wert in ganz Großbritannien.

Eine Überraschung war das nicht. Bei der Parlamentswahl vergangenes Jahr kam die EU-feindliche Ukip in Castle Point auf mehr als 30 Prozent. Die örtliche Abgeordnete in London, die Konservative Rebecca Harris, war nach der Brexit-Entscheidung der Briten "stolz und begeistert".

Jeder einzelne Wahlbezirk in Essex hat sich mehrheitlich für den EU-Austritt entschieden. Die Grafschaft hat einen, vorsichtig gesagt, durchwachsenen Ruf. "Essex Girl" ist eine Beleidigung und meint eine junge Frau, die zu viel Selbstbräuner benutzt und nicht allzu viel im Kopf hat. Oscar-Preisträgerin Helen Mirren (70) ist hier aufgewachsen und nannte ihre Heimat mal "die Achselhöhle der Welt".

Worum geht es den vielen Brexit-Wählern? Susan, die in einem Laden namens "Shoe Zone" Gummistiefel für 3,99 Pfund das Paar verkauft, zuckt mit den Schultern. Ihr 20-jähriger Sohn habe gegen den Brexit gestimmt, aber das sei ja seine Sache. Sie sei für "Leave" (Rausgehen) gewesen. "Ich dachte, es ist mal Zeit für was anderes." Weitere Gründe fallen ihr nicht ein.

Dafür hat Jim einen: "Weil ich Brite bin." Der 80-Jährige kommt aus London und erinnert sich, wie er sich vor deutschen Bomben im U-Bahn-Tunnel versteckte, bevor er U-Bahn-Fahrer wurde. "Ob was besser wird, weiß ich nicht, aber wenigstens können wir jetzt selbst entscheiden." Dass nun Boris Johnson und Nigel Farage abgetreten sind, die Köpfe der Brexit-Kampagne, ändere daran gar nichts. Und um Immigration, fügt er ungefragt hinzu, sei es nicht gegangen.

Das wiederum sieht Jack ganz anders, der im Pub sitzt und sich für seine schwere Zunge entschuldigt - er trinke seit ein paar Tagen, er habe seinen Job verloren. "Was Angela Merkel gemacht hat, das hat alle erschreckt", sagt er und meint damit die Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge. Gegen Deutsche habe er nichts, er habe mal in Ingolstadt gelebt. Nur das mit den Flüchtlingen, das sei zu viel. Das sagt so ähnlich auch die Abgeordnete Harris im Parlament, eine Weile vor der Volksabstimmung. Einwanderung sei die größte Sorge der Menschen in ihrem Wahlkreis.

Dem Zensus aus dem Jahr 2011 zufolge sind 96,4 Prozent der Bewohner von Castle Point in Großbritannien geboren, 80 Prozent halten sich für englisch - nicht britisch, wohlgemerkt. Laut Berichten des "Guardian" sind im Jahr 2015 netto 81 Migranten nach Castle Point gekommen. Der Bezirk hat etwa 86 000 Einwohner. Die Bevölkerung ist weißer, älter und schlechter ausgebildet als in den meisten anderen Regionen der Insel.

 Reifenverkäufer Sam hat aus Überzeugung für den Brexit gestimmt. Foto: Dapp/dpa

Reifenverkäufer Sam hat aus Überzeugung für den Brexit gestimmt. Foto: Dapp/dpa

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Das erhöht statistisch die Wahrscheinlichkeit, EU-feindlich zu sein, wie Wahlforscher ermittelt haben. Es ist tatsächlich gar nicht einfach, an einem Wochentag einen Brexit-Gegner in Castle Point zu finden. "Die sind wahrscheinlich in London zum Arbeiten", sagt ein junges Paar am Strand der Themse. Einer findet sich dann doch noch. Graham, der auf einer Ölinsel vor Norwegen gearbeitet hat und jetzt in Rente ist, war fürs Bleiben. So richtig begründen kann er das aber auch nicht. "Besser für die Jungen", glaubt er.

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