Wenn es Nacht wird über Blieskastel . . .

Blieskastel · Jeden Winter wechselt Siegfried Heß aus Blieskastel den Namen und altert um 200 Jahre: Im Kostüm eines barocken Nachtwächters versetzt er seine Gäste ins Jahr 1804. Angestaubt ist seine Stadtführung aber nicht.

 Als Nachtwächter nimmt Gästeführer Siegfried Heß seine Zuhörer mit ins Jahr 1804. Den Zeitsprung hat er gewählt, um die Geschichte der barocken Altstadt Blieskastels (im Bild der Herkulesbrunnen) möglichst lebendig erzählen zu können. Das gelingt. Fotos: Rich Serra

Als Nachtwächter nimmt Gästeführer Siegfried Heß seine Zuhörer mit ins Jahr 1804. Den Zeitsprung hat er gewählt, um die Geschichte der barocken Altstadt Blieskastels (im Bild der Herkulesbrunnen) möglichst lebendig erzählen zu können. Das gelingt. Fotos: Rich Serra

Der sechste Schlag ist kaum verklungen, da tönt das Horn über den Paradeplatz: Tuuuut. Nachtwächter Marti Voit setzt ab und verkündet laut singend: "Hört, ihr Leut, und lasst euch sagen, uns're Glock' hat sechs geschlagen." Es ist kühl und windig an diesem Novemberabend des Jahres 1804. Doch neun Fremdlinge laufen im Herzen Blieskastels zusammen, folgen mutig dem Ruf. Der Diensthabende verhaftet sie für die nächsten zweieinhalb Stunden - das darf er, des Nachts hat er Polizeigewalt . Aber diesmal will er nur ihre Sinne fesseln - für einen Rundgang der besonderen Art.

Die Stadt zeigt sich in jenem Jahr indes nicht gerade von ihrer glänzendsten Seite. Der barocke Lack ist ab, die Revolution kam über die Grenze, der Bliesgau ist jetzt französisch, das Schloss liegt in Trümmern, seine Chefin, die Gräfin Marianne, ist tot. "Wir hatten schon bessere Zeiten", klagt der Wächter im schwarzen Lodenmantel. Trotzdem nimmt Marti Voit seine Gäste mit - und alle folgen. Dass der Nachtwächter eigentlich Siegfried Heß heißt und das Ganze eine Stadtführung ist, die ganze 212 Jahre später spielt, ist schon vergessen.

Jeden Winter wirft Heß den Umhang über, nimmt Horn und Hellebarde in die Hand - und altert um zwei Jahrhunderte. Der Gästeführer von Blieskastel will, dass der Ausflug in die Vergangenheit lebendig und anschaulich wird. 1804 hat er für seine Zeitreise angesetzt, von da aus blickt er zurück auf die barocke Stadt-Blüte. Das Konzept zur Führung hat Heß selbst erarbeitet, seit er die Rolle 2011 von seiner Vorgängerin übernahm. Daten und Fakten will er nicht runterbeten, das - vermeintlich - trockene Image der Stadtführung wird bei ihm entstaubt. "Ich erzähle lieber aus dem Leben der Menschen", sagt der 73-jährige, pensionierte Grundschuldirektor am Rande der Tour. Und das Leben der kleinen Leute kennt niemand besser als ein Nachtwächter.

Heß alias Marti Voit geleitet seine Schar durch die dunklen Gassen der denkmalgeschützten Altstadt, wo die Bürger wohnten, rauf zum Schlossberg, wo die Herrschaft residierte: die Grafen von der Leyen, die Blieskastel von einem verschlafenen Marktflecken zur barocken Residenzstadt machten. Ja, in eine Seitenlinie der Adligen hat "unsere Verteidigungsministerin später eingeheiratet", klärt der Kenner auf. Vor allem Gräfin Marianne dirigierte die Blütezeit von 1773 bis zu ihrer Flucht vor den französischen Revolutionären 1793. Sie starb, passend zu Voits Zeitreise, 1804.

Auf Mariannes Erbe ist die Stadt im Saarpfalz-Kreis bis heute stolz, daher die nostalgische Stadtführung. Heß leitet sie sonntags an acht Terminen zwischen Oktober und März, auf Anfrage auch für Gruppen. "Im Schnitt kommen 40 Leute", sagt Heß. In fünf Jahren habe er schon rund 2000 Gäste geführt. Sie kommen aus der Umgebung, sind Touristen oder Gäste der nahen Kurklinik. "Insgesamt wird das Publikum jünger", sagt der Nachtwächter. "Ich habe den Eindruck, dass bei vielen das Geschichts- und Traditionsbewusstsein zunimmt, das liegt vielleicht an der Orientierungslosigkeit der heutigen Zeit." Zurück zu den Wurzeln, das komme zunehmend an.

Bundesweit gibt es in vielen Städten Nachtwächter-Führungen; sogar spezielle Vereinigungen von Gästeführern, die das Brauchtum pflegen wollen. Allein im Saarland gibt es vier Nachtwächter-Standorte (siehe Kasten). Führungen im Kostüm bieten einfach eine "besondere Begegnung mit der Geschichte", glaubt Heß. Die Stimmung beim Nachtwächter-Gang ist romantisch, fast besinnlich. Die Laternen in den Händen der Gäste tragen dazu bei.

Im Sommer ist Siegfried Heß nicht Wächter, sondern Natur- und Landschaftsführer im Biosphären-Reservat Bliesgau. Er wollte noch etwas "Sinnvolles" tun nach der Pensionierung, aktiv bleiben. Das gelang. Er sei mit "großem Spaß" Nachtwächter, sagt er, obwohl er zunächst nicht wollte. Schließlich ist die Figur aus dem Mittelalter für einen waschechten Schulmeister ein Abstieg: Nachtwächter war kein ehrbarer Beruf, er stand "nur knapp über dem Henker". Ein Knochenjob, schlecht bezahlt und schlecht gelitten, dabei aber wichtig. Nachts streiften die Dienstmannen durch die Städte, sagten die Zeit an und sorgten für Ruhe und Ordnung, überwachten die Sperrstunde und warnten vor Feuer. Bis das elektrische Licht und die moderne Zeit sie ablösten.

Marti Voit - den zeitgenössischen Namen hat sich Heß selbst ausgesucht - erzählt beim Rundgang viele kleine und große Geschichten hinter den barocken Überbleibseln der Stadt - vom Napoleonsbrunnen zur Barockkirche in die Orangerie, von den Überresten am Schlossgelände zur Klosterkapelle und zurück zum Paradeplatz. Immer dabei: Ehefrau Edeltraud, die im Hintergrund für Überraschungen sorgt - und ihrem Mann auf halber Strecke unbemerkt eine Halspastille in den Mund steckt.

Denn der Nachtwächter muss unentwegt sprechen, oft in klirrender Kälte. Und schimpfen, wenn sich die Blieskasteler zur Sperrstunde unflätig benehmen. So geschieht es etwa in der ehemaligen Gerbergasse. Ein Nachttopf spielt dabei eine Rolle - es gibt viel Gelächter unter den Gästen. "Diese kleinen Details sind sehr schön", findet eine Besucherin aus Nordrhein-Westfalen, die begeistert ist von der Zeitreise.

Nach zweieinhalb Stunden tönt das Horn zum letzten Mal: Tuuut. Der Nachtwächter singt: "Gute Nacht, ihr lieben Leut', mit euch zu geh'n, hat mich gefreut." Dann ist Feierabend. Aus 1804 wird wieder 2016. Schade.

Zum Thema:

 Mit Lodenmantel, Filzhut, Horn und Laterne: Nachtwächter Siegfried Heß alias Marti Voit bei der Arbeit.

Mit Lodenmantel, Filzhut, Horn und Laterne: Nachtwächter Siegfried Heß alias Marti Voit bei der Arbeit.

Auf einen Blick Nachtwächter-Führungen gibt es auch in Ottweiler, St. Wendel und Saarbrücken. Inszenierte Führungen - mit Stadtführern in Kostümen - werden zunehmend nachgefragt, "sowohl von Saarländern als auch von Übernachtungsgästen", heißt es aus der Tourismuszentrale des Saarlandes. In Blieskastel startet die nächste Nachtwächter-Führung am Sonntag, 18. Dezember, 18 Uhr, auf dem Paradeplatz. Sie kostet fünf Euro pro Person, eine Anmeldung ist nicht erforderlich. Weitere Termine unter www.blieskastel.de kes

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