„So wollen Menschen nicht sterben“

Saarbrücken · Pflegekräfte im Saarland sind gerade auf die Straße gegangen, um mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen einzufordern. Verdi-Vorstandsmitglied Sylvia Bühler aus Berlin sieht das Patientenwohl „immer häufiger ernsthaft gefährdet“ und beklagt „nicht nur im Saarland eine katastrophale Situation der Krankenhausbeschäftigten“. Es gebe bundesweit viel zu wenig Personal, vor allem in der Pflege. Was das heißt, erlebt Tanja (Name von der Redaktion geändert) seit Jahren. Sie ist Gesundheits- und Krankenpflegerin, also Krankenschwester, und arbeitet in einem saarländischen Krankenhaus. Sie pflegt teilweise schwer kranke Patienten und berichtet aus ihrem Alltag. Sie möchte anonym bleiben aus Angst um ihren Arbeitsplatz.

 SZ-Redakteurin Christine Kloth im Interview mit Tanja. Aus Angst vor Problemen mit ihrem Arbeitgeber möchte die Saarländerin unerkannt bleiben. Sie arbeitet bereits ihr halbes Leben lang als Krankenschwester.

SZ-Redakteurin Christine Kloth im Interview mit Tanja. Aus Angst vor Problemen mit ihrem Arbeitgeber möchte die Saarländerin unerkannt bleiben. Sie arbeitet bereits ihr halbes Leben lang als Krankenschwester.

Foto: Kloth


Warum sind Sie Krankenschwester geworden?
TANJA
Der Beruf ist schlecht bezahlt, hat schlechte Arbeitszeiten und schlechte Bedingungen. Es gibt also nur einen Grund, warum ein Mensch Krankenschwester wird: weil man es gerne macht. Und zwar, weil man ein Mensch ist, der sozial engagiert ist und der gern mit Menschen arbeitet und Menschen hilft.

Was sind schöne Situationen in Ihrem Beruf?
TANJA
Das Beste ist, wenn Menschen sich bedanken, weil man einen Angehörigen in schweren Zeiten liebevoll begleitet hat. Oder, dass man in einem Notfall gut reagieren konnte. Oder, wenn man miterlebt, wie eine Krankheit entzweite Menschen zusammenführt. Oder, dass ein Patient sich bedankt, dass man Zeit hatte, ihm im Sommer ein Eis zu kaufen.

Was ist das Schlechteste?
TANJA
Das Schlechteste siehst du daran, wie Menschen mit ihren Alten umgehen. Es gibt viele Angehörige, die ihre Nächsten nicht pflegen wollen, die sich nicht einschränken wollen, nur weil einer aus der Familie nicht mehr so funktioniert, wie er funktionieren soll. Das ist ganz traurig. Da liegen Menschen, die bekommen nie Besuch. Die liegen einfach nur da. Dann blutet mir das Herz, wenn ich überhaupt keine Zeit habe, das ein bisschen aufzufangen.

Wie klar ist Ihre Arbeit definiert?
TANJA
Gar nicht. Ich kann und werde als Pflegekraft bei Personalausfällen auf jeder Station eingesetzt, auch wenn ich dort noch nie gearbeitet habe und mich selbst dafür nicht kompetent fühle. Laut Pflegedirektion sind schließlich alle gleich ausgebildet worden und somit gleichermaßen fähig. Fällt die Stationshilfe aus, die das Essen austeilt, machen wir Krankenschwestern das mit. Fällt die Sekretärin auf Station aus, machen wir das mit. Nachts übernehmen wir den Patienten-Transport von der Station zu Not-Untersuchungen. Die Station bleibt in der Zeit unbesetzt, auch wenn die Klingel auf der Nachbarstation hörbar ist.

Gerade haben Pflegekräfte im Saarland demonstriert…
TANJA
Ja, weil die Schere immer weiter auseinander geht: zwischen Will und Kann. Man will als Pflegekraft ganz viel machen, und man kann es einfach nicht, weil Personal fehlt. Es ist gar nicht die Motivation, die fehlt. Das heißt, man ist derart frustriert, dass man morgens schon in den Dienst kommt und weiß: Ich werde mein Tagesziel - eine gute Pflege - heute nicht erreichen. Das ist für einen Menschen ganz schlimm.

Welche Folgen hat es für den Patienten, wenn Sie ihr Tagesziel nicht erreichen?
TANJA
Im weniger schlimmen Fall hat er mal nicht immer was zu trinken, wenn er was braucht oder liegt mal nicht angenehm. Aber im dramatischen Fall ist ein Mensch alleine gestorben und man merkt es erst eine halbe bis Stunde später, weil es einfach untergeht. Und ich muss damit leben, dass ich das verpasst habe. Das ist für die Seele einer Pflegekraft eine Katastrophe. Vielleicht hat der Verstorbene es gar nicht mitbekommen, mag sein. Aber so wollen Menschen nicht sterben. Es sollte sich jeder mal an die eigene Nase fassen und sich fragen, ob er so sterben will. Das ist der schlimmste Fall für die Pflegekraft und für den Patienten - und das ist Alltag.

Wie halten Sie das aus?
TANJA
Indem ich keine volle Stelle mehr habe. Mit voller Stelle macht es dich fertig. Dann hat man keinen Abstand mehr. Dann bricht der Beruf dich. Das sieht man ganz oft im Alltag, dass aus Pflegekräften, die mal sehr motiviert, positiv und engagiert waren, im Laufe der Zeit gebrochene Charaktere werden, die dann irgendwann völlig frustriert sind oder wütend und das auch mal an Patienten auslassen, und da ist die Gesellschaft dann ganz schnell dabei, den Zeigefinger zu erheben. Natürlich darf die Pflegekraft das nicht und es soll keineswegs eine Entschuldigung sein, aber das passiert, wenn man jahrelang mit Angst oder Wut nach Hause geht. Dann wird man so, ob man will oder nicht, da kann sich keiner von frei sprechen. Das passiert ganz schnell, dann darf man nicht nur sagen, die Pflegekraft ist schuld und böse. Nein, sie ist kaputt gegangen an dem System. Das System ist böse.

Warum machen Sie nicht was anderes?
TANJA
Ich könnte was anderes machen, aber ich will ja gar nichts anderes machen. Das ist ja das Schlimme an dem System. Die Pflegekräfte wollen ja nichts anderes machen, weil sie es lieben, anderen zu helfen. Das sind Leute, die brennen nur für diesen Beruf, egal, wie die Umstände sind. Pflegekräfte lassen sich ausnutzen, es sind Menschen, die emotional ticken. Menschen in Führungsetagen sind andere Charaktere. Die würden irgendwo hingehen, wo sie besser verdienen und bessere Bedingungen haben. Pflegekräfte sind keine Businesstypen, sie sind keine aggressiven Kämpfer, sie lassen sich ausnutzen, bis es gar nicht mehr geht. Und das ist ihr Schwachpunkt - und das weiß man. Und sie sind leicht ersetzbar.

Wer kämpft für Pflegekräfte?
TANJA
Leider nur die Pflegekräfte selbst. Und die Pflege ist nicht gut im Kämpfen, das ist nicht ihr Naturell. Die Pflege kämpft hier eigentlich für Belange des Arbeitgebers, der sich für Qualität und die Belange der Patienten einsetzen müsste. Wenn man sich das Naturell einer Pflegekraft betrachtet, dann ist das jemand, der helfen will, kompromissbereit und pflichtbewusst ist. So jemand streikt nicht einfach. Deswegen funktioniert Streik so schwer in der Pflege. Wenn jemand anruft von der Pflegedirektion und sagt: Wenn du jetzt nicht kommst, ist dein Kollege alleine. Dann geht er arbeiten - und das weiß der Arbeitgeber und nutzt es aus.

Welche Rolle hat der Patient?
TANJA
Er hat die Macht und weiß es oft nicht. Die Patienten müssten mit auf die Straße gehen. Denn entweder haben die Leute keine Kinder heutzutage oder sie werden pflegebedürftig, bevor die Kinder Zeit haben, sich um sie kümmern. Was mache ich dann? Dann lande ich in dem System, doch es ist zu spät.

Wie können Patienten merken, ob eine Station unterbesetzt ist?
TANJA
Das ist einfach zu merken. Zunächst mal an der Stimmung: Die Krankenschwestern sind genervt, reagieren motzig, was vielleicht gar nicht ihr Naturell ist. Das ist ein leichter Indikator. Dramatischer wird es, wenn ich klingele, und es dauert eine Viertelstunde, bis jemand kommt. Im Notfall kann das schwerwiegende Folgen haben. Eine Viertelstunde ist lang, viel zu lang.

Ist es für Pflegekräfte hilfreich, wenn Patienten sich beschweren?
TANJA
Ja. Wir ermutigen die Patienten auch, das zu tun. Schreiben Sie an die Pflegedirektion: Ich habe gesehen, wie das Personal hier schuftet und bis an die Grenzen der Belastbarkeit seiner Arbeit nachgeht. Es ist gut, wenn die Stimme auch vom Patienten kommt. Es darf nur nicht die Konsequenz haben, die es oft im Alltag hat, dass die Pflegedirektion mit Blumen kommt und sich beim Patienten entschuldigt. Sie müsste auch zur Pflegekraft kommen und sagen: Ja, Entschuldigung, das war schlimm. Es kann stattdessen nicht sein, dass ich als Pflegekraft mich beim Patienten entschuldigen muss.

Krankenhäuser stehen eben unter wirtschaftlichem Druck…
TANJA
Ja, es dreht sich alles um die Wirtschaftlichkeit. Ich muss unfassbar viel dokumentieren. Ich muss alles, was ich an dem Patienten mache, abhaken. Ein Haken hinter Sturzprophylaxe bringt dem Betrieb soundso viel Geld. Das raubt mir so viel Zeit, dass ich gar keine Möglichkeit habe, das alles zu machen. Das führt dazu, dass ich Sachen abhake, die ich gar nicht mache.

Sind sie die Einzige, die das so macht?
TANJA
Nein. Das macht fast jeder. Diese Dokumentationen haben mit der Praxis nichts zu tun. Ich hake das ab, weil man von mir erwartet, dass ich es abhake. Es kontrolliert ja auch keiner. Ich mache es. Nur, das ist so Zeit raubend, dass die schönen Dinge nicht mehr möglich sind. Je aufwändiger der Patient, umso aufwändiger soll ich alles dokumentieren. Es gibt ja zum Beispiel Patienten mit einem besonders hohen Pflegeaufwand. Sie haben diverse Zu- und Abgänge, können sich nicht mehr selbst waschen oder sind sterbend. Diese Patienten sind nur abrechenbar, wenn alles lückenlos dokumentiert ist. Das heißt, jede Drehung des Patienten und sogar die Gespräche, die ich mit dem Patient führe - bis in den Inhalt. Ich sollte zum Beispiel nicht da reinschreiben, dass der Patienten sagt, ihm geht es heute gut. Sondern ich sollte schreiben, es geht ihm besser als am Vortag. Sonst fragt die Krankenkasse, warum ist er denn noch da? Bei Patienten mit sehr hohem Pflegeaufwand brauche ich etwa eine Viertelstunde pro Schicht für die Dokumentation. Wenn ich Pech habe, sind sieben von 15 Patienten solche Fälle. Die Dokumentation ist mittlerweile wichtiger als das Gemachte, wegen Geld und möglicher Klagen.

Das heißt, sie müssen die Dokumentationen auch machen, um sich selbst zu schützen?
TANJA
Ja, viele in dem Beruf machen sich nicht klar, dass sie ständig mit einem Bein im Gefängnis stehen. Transfusionen etwa hängt ein Arzt an, dann geht er aus dem Zimmer. Das heißt, die Transfusion läuft danach unter pflegerischer Überwachung. Sollte etwas Unvorhergesehenes passieren, der Patient etwa allergisch reagieren, bleibt die Ausführungsverantwortung zwar beim Arzt, aber wer stärkt mir den Rücken, wenn ich eine lebensbedrohliche Reaktion im Trubel zu spät bemerke?

Wann dachten Sie: Jetzt schmeiße ich doch hin?
TANJA
Die schlimmsten Situationen passieren nachts. Nachts ist man alleine. Wenn man zum Beispiel auf einer Inneren Station arbeitet, ist man alleine mit über 40 Patienten. Das funktioniert nur dann, wenn nichts Außerplanmäßiges passiert: Wenn die Patienten alle gut führbar sind, wenn ich keinen Notzugang bekomme und wenn keiner sterbend ist, dann kann ich das vielleicht halbwegs befriedigend leisten. Aber das ist nicht die Realität. So eine Schicht gibt es ganz selten. In den meisten Fällen passiert etwas. Und wenn man sich die Patienten von heute betrachtet, das sind nicht mehr die Patienten wie vor 20 Jahren. Das sind sehr alte Patienten, multimorbide, dement. Das ist nachts nicht mehr zu bewältigen - und wenn ich dann irgendwann in ein Vierbettzimmer komme und mittendrin ist mir jemand gestorben und es gucken drei dabei zu, dann ist das menschenunwürdig. Katastrophal. Und wenn ich mich dann in Überlastungssituationen bei der Pflegedirektion beschwere, und sie sagt zu mir: Sie müssen nicht gut pflegen, ausreichende Pflege ist uns gut genug. Dann ist das ein Schlag ins Gesicht - wenn man das mal als Slogan unter einen Werbebanner von einem Krankenhaus schreiben würde, dann möchte ich mal sehen, wer noch in dieses Krankenhaus geht.

Gibt es für Sie nach so einem Fall eine Supervision?
TANJA
Dieses Angebot gibt es nur für wenige Stationen. Aber wenn, dann nur einmal im Monat und nicht akut, wie man es bräuchte. Außerdem sollen die betroffenen Mitarbeiter diese Supervisionen außerhalb ihrer normalen Dienstzeit besuchen, das heißt, sie reisen mit ihrem Auto auf ihre eigenen Kosten an einem vielleicht freien Tag eigens dafür an - und dann wundert sich die Pflegedirektion, dass die Supervisionen schlecht besucht sind und sagt: ein bisschen Eigenmotivation muss schon sein. Da denken viele ganz zu Recht: Nein, die brauchen wir, um diesen Job überhaupt irgendwie weitermachen zu können.

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