Große Gefühle und kleine Scharmützel

Berlin · Steinmeier ist mit gutem Ergebnis gewählt worden. Jetzt muss er seine neue Rolle finden.

Oben auf der Tribüne sind große Gefühle zu beobachten. Mutter Ursula wischt sich die Tränen aus den Augen, "ich muss erst noch alles verkraften", sagt die 87-Jährige, als sie den Plenarsaal verlässt. Ehefrau Elke Büdenbender, neue First Lady, knetet aufgeregt die Finger, sie atmet tief durch, ihre Stimme zittert: "Ein unglaublicher Tag. Ich bin noch ganz gerührt." Der Sohn, der Mann ist soeben zum zwölften Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt worden.

Frank-Walter Steinmeier hat 931 von 1239 gültigen Stimmen erhalten. Zu den ersten Gratulanten gehört sein Vorgänger Joachim Gauck. Ihm dankt die 16. Bundesversammlung zu Beginn mit stehenden Ovationen, nur die Linke und die AfD bleiben sitzen. Gauck verbeugt sich, er wirkt sichtlich bewegt. Ergriffenheit ist indes nichts, was man häufig bei Frank-Walter Steinmeier erleben wird. Als Bundestagspräsident Norbert Lammert das Ergebnis der Wahl um 14.15 Uhr verkündet, strahlt Steinmeier zwar über das ganze Gesicht, Noch-SPD-Chef Sigmar Gabriel fällt ihm um den Hals. Aber seine Emotionen hat der 61-Jährige im Griff. Kurz vorher hat Lammert Steinmeier in einem Raum im Ostteil des Reichstages aufgesucht, wo er auf das Resultat wartet. Alles glattgegangen, so Lammerts Botschaft.

Dem neuen Bundespräsidenten, der am 19. März das Amt offiziell übernimmt, fehlen freilich über 150 Stimmen, die er hätte bekommen müssen, wenn Union, SPD, Grüne und FDP geschlossen für ihn votiert hätten. Wo die meisten Abweichler stecken, sieht man beim Blick auf die hinteren Reihen der Unions-Fraktion. Als das Wahlergebnis mitgeteilt wird und der Jubel aufbrandet, rührt sich dort keine Hand. Offenbar wirkt noch der Ärger darüber nach, dass es Angela Merkel nicht gelungen ist, einen vorzeigbaren Christdemokraten zu finden, der zur Kandidatur bereit gewesen wäre. Noch verletzender ist womöglich Sigmar Gabriels Spruch in der SPD-Fraktionssitzung, die Union habe sich "nicht getraut", gegen Steinmeier einen eigenen Bewerber aufzustellen. Als die Delegierten von CDU und CSU am Samstag zusammenkommen, ist der Unmut spürbar.

Während die Abstimmung läuft, streift der Ex-Außenminister durch das Parlament, er wird geherzt, umarmt, gedrückt, viele wollen ein Selfie mit ihm machen. Auch CDU-Generalsekretär Peter Tauber bittet um ein Foto - oder die Schauspielerin Veronica Ferres. Sie und Bundestrainer Jogi Löw müssen ihrerseits für viele Selfies bereitstehen. "Das hat hier etwas von einem Klassentreffen", grinst FDP-Chef Christian Lindner. Jeder schwatzt mit jedem. Selbst die Travestiekünstlerin Olivia Jones mit orangener Perücke und kurzem türkisen Kleid nutzt die Gelegenheit zum angeregten Plausch mit Kanzlerin Angela Merkel, die farblich mit einem knallgelben Blazer und schwarzer Hose dagegenhält. Die Lobby des Bundestages gleicht einer großen Familienfeier.

Außen vor bleiben vor allem die Wahlleute der AfD. "Das wird sich alles noch normalisieren", erklärt deren Vorsitzender Jörg Meuthen, der damit rechnet, dass seine Partei ab Herbst in Fraktionsstärke im Bundestag sitzen wird. Bei der Eröffnungsrede von Bundestagspräsident Norbert Lammert ruft Co-Chefin Frauke Petry mehrfach dazwischen. Kein Wunder - sein Thema ist das Erstarken der Nationalisten überall auf der Welt, auch in Deutschland. Ohne den Namen direkt zu erwähnen, attackiert Lammert den amerikanischen Präsidenten Donald Trump. Wer Abschottung anstelle von Weltoffenheit fordere und sich sprichwörtlich einmauere, und wer "Wir zuerst" zum Programm erkläre, dürfe sich nicht wundern, "wenn es ihm andere gleichtun", betont Lammert. Alle Deutschen seien aufgerufen, Europa zu stärken. Bei diesen Worten stehen fast alle 1260 Versammelten auf und klatschen.

Überraschend viele Stimmen kann der Armutsforscher Christoph Butterwegge auf sich vereinen, den die Linken nominiert haben. 128 Stimmen erhält er. Präsident wird aber an diesem Tag nun mal Steinmeier. Er fordert in seiner kurzen Ansprache, wenn das Fundament der Demokratie bröckele, "müssen wir umso fester dazu stehen". Und an seine "Landsleute" appelliert er: "Lasst uns mutig sein, dann jedenfalls ist mir um die Zukunft nicht bange."

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort