Zwischen Halbschlaf und Hektik

Die Zahl der Saarländer, die zwischen Wohnort und Arbeitsplatz pendeln, ist laut der Bundesagentur für Arbeit in den vergangenen fünf Jahren um 8,9 Prozent angestiegen. Eine längere Strecke zum Job zurückzulegen, gilt heute vielfach als selbstverständlich.

 Alltag für Michael Sarg: Der 55-Jährige pendelt fünf Tage in der Woche zwischen Saarbrücken und Frankfurt. Foto: Iris Maurer

Alltag für Michael Sarg: Der 55-Jährige pendelt fünf Tage in der Woche zwischen Saarbrücken und Frankfurt. Foto: Iris Maurer

Foto: Iris Maurer

Ein kurzes, in Intervallen wiederkehrendes Schnaufen und leises Gemurmel geht durch den Zug, der gen Osten fährt. Ein Großteil der Passagiere ist noch im Halbschlaf. Wenn der Kopf nicht auf die Brust hinabgesunken ist, klebt er fast an der Fensterscheibe fest. Hauptsache, irgendwie abstützen - denn um 5.30 Uhr scheint jede Bewegung so anstrengend wie ein Marathonlauf. Manch ein Zuggast hat sein Frühstück vor sich hingestellt und führt beinahe mechanisch den Kaffeebecher an den Mund, während er durch das Fenster in die Dunkelheit nach draußen starrt. Für viel mehr scheint die Mehrheit der Fahrgäste noch nicht in der Lage zu sein. Die Müdigkeit hängt vielen wie Blei in den Knochen.

Michael Sarg ist da eine Ausnahme. Taufrisch wirkt der 55-Jährige, ganz ohne Augenringe. "Ich bin ein Frühmensch", erklärt der Saarbrücker und platziert Handy und Laptop vor sich. Während der Zugfahrt entspannt er überwiegend, gelegentlich arbeitet oder liest er. Mit dem Auto zur Arbeit zu pendeln, sei für ihn nie in Frage gekommen. "Die Zeit kann man im Zug besser nutzen", sagt Sarg. Auch nach dem Zugunglück in Bad Aibling, bei dem vor allem Pendler zu Opfern wurden, habe sich seine Meinung nicht geändert. "Das war wohl eine Verkettung von unglücklichen Umständen", vermutet er. Sarg betrachtet den Zug nach wie vor als sicheres Verkehrsmittel. Ein mulmiges Gefühl habe er nicht, wenn er täglich damit fahre.

Frühaufstehen gehöre zum Pendeln dazu, erklärt Sarg. Der Körper gewöhne sich mit der Zeit daran, da spiele vor allem das jahrelange Training mit. Bereits seit fünf Jahren fährt der IT-Ingenieur zwischen Saarbrücken und Frankfurt hin und her, und das fünf Tage in der Woche. Zu Hause bleibt daher kaum Zeit für Familie und Freundeskreis. Unter den Pendlern habe er keine Freunde, man kenne sich zwar, aber groß kommunizieren würde man nicht. "Wenn ich ehrlich bin, will man als Pendler doch einfach nur seine Ruhe haben", meint Sarg, der täglich um 4 Uhr morgens aufsteht, um dann um kurz vor fünf mit dem Bus von Jägersfreude an den Saarbrücker Hauptbahnhof zu fahren. "Das ist der einzige Bus um diese Zeit", sagt er. Dann ist Sarg zwar zu früh am Bahnhof, aber der Zug steht glücklicherweise schon am Gleis bereit. Verschlafen? Das habe er in seiner Pendlerzeit noch nie, versichert der 55-Jährige.

Sarg ist einer von 30 910 Saarländern, die täglich zu ihrem Arbeitsplatz pendeln. Ihre Zahl ist laut Bundesagentur für Arbeit in den vergangenen fünf Jahren um 8,9 Prozent angestiegen. Viele Saarländer arbeiten in Rheinland-Pfalz, Hessen, Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen. In der heutigen Arbeitswelt wird Pendeln oft als selbstverständlich angesehen - auch bei Sarg. "Es gibt keine Job-Alternativen für mich im Saarland", sagt er. Seit 1998 arbeitet der IT-Ingenieur bereits in Hessen, vor fünf Jahren verlegte er seinen Wohnsitz wieder ins Saarland - der Liebe wegen. "Meine Frau wohnt hier, sie betreut ihre und meine Eltern", erläutert er. Umziehen sei für sie also gar nicht möglich. Umso mehr genießt Sarg abends die zwei Stunden, die er nach getaner Arbeit mit seiner Frau verbringen kann. "Es gibt nichts Schöneres, als neben dem Partner abends einzuschlafen."

Der Zug bremst scharf, dann kommt der Eurocity langsam zum Stehen. Erster Halt: Homburg. Stress, Müdigkeit und Anspannung ist den einsteigenden Fahrgästen ins Gesicht geschrieben. Die von Müdigkeit geprägte Atmosphäre frischt kurz auf. Kalte Luft strömt für ein paar Sekunden durch das Abteil. Hektisch werden Jacken, Taschen und Regenschirme über und unter den Sitzen verstaut. Dann ruckelt der Zug wieder los. Nach ein paar Minuten kehrt langsam wieder Ruhe ein. Sarg widmet sich seinem Frühstück.

Das tun auch einige Passagiere zwei Abteile weiter im Bordbistro. Es ist an diesem Morgen gut besucht. Was um kurz vor 6 Uhr viele Menschen auf den Beinen hält, ist starker Kaffee. An einem Tisch sitzen Manuela Gihl und Thomas Harz. Gihl pendelt seit 16, Harz seit 26 Jahren. Dagegen ist Sarg fast ein Anfänger.

Harz wirkt noch etwas verschlafen und nippt hin und wieder an seiner Tasse Kaffee. Gihl hingegen ist auch ohne heißes Gebräu munter. Sie fahre gerne Zug, sagt die 54-Jährige lachend. "Bahnfahren ist für mich wie Urlaub", schwärmt sie, da habe sie Zeit nur für sich allein. Gihl arbeitet in der Versicherungsbranche und pendelt werktags nach Stuttgart. Zwar hätte sie auch die Möglichkeit gehabt, im Saarland ihren Beruf auszuüben, aber Gihl hat freiwillig das Hin- und Herfahren gewählt. Erst habe es daran gelegen, dass auch ihr Team gewechselt hatte, später war das Bahnfahren für sie so zur Gewohnheit geworden, dass sie es jetzt nicht mehr missen möchte. "Manche haben dafür kein Verständnis, aber ich pendle wirklich gerne", meint die 54-jährige Homburgerin. Für Gihl drehe sich alles um ihre Arbeit. "Mein Beruf ist mein Hobby", sagt sie, ihr Privatleben verlege sie auf das Wochenende. Am liebsten würde sie bis zu ihrem 75. Lebensjahr arbeiten gehen - und das auch mit ständigem Hin- und Herfahren. Manchmal fahre sie sogar noch eine Stunde früher zur Arbeit. "Drei Stunden Schlaf pro Nacht reichen doch", meint sie lachend. Thomas Harz, der ihr gegenübersitzt, sieht das anders. "Man muss natürlich Abstriche machen", sagt der 63-Jährige, der täglich nach Frankfurt fährt. Wenn er abends heimkommt, bleibt nicht viel vom Tag übrig, die kurze Zeit mit der Familie genießt er dann. Das frühe Aufstehen ist für Hartz Routine. "Als Student war schon die 11-Uhr-Vorlesung schwierig, heute steht man sogar sechs Stunden früher auf", erinnert er sich. Dann schweigt er wieder, trinkt seinen letzten Schluck Kaffee und geht zurück ins Abteil. Auch Gihl wechselt zu ihrem Sitzplatz in der ersten Klasse. Noch einmal kurz verschnaufen, bevor die Arbeitshektik beginnt.

Inzwischen ist es kurz vor 7 Uhr. Draußen fängt es langsam an zu dämmern, aber wirklich hell werden will es an diesem Wintertag nicht. Sarg hat seinen Laptop aufgeklappt und arbeitet. Auch der restliche Teil des Zuges wird langsam wach. Viele Passagiere stecken ihre Köpfe in Zeitungen, andere unterhalten sich leise. Manch einer hat wie Sarg Laptop oder Tablet vor sich, arbeitet, liest oder hört Musik. Nächster Stopp: Ludwigshafen. Kurz darauf hält der Zug am Mannheimer Hauptbahnhof. Für Sarg heißt das, gleich die Beine in die Hand zu nehmen. Nur ein paar Minuten hat er, um den Anschlusszug von Mannheim nach Frankfurt zu erreichen. "Es ist immer etwas stressig", sagt Sarg. Die Zugtüren öffnen sich, am Bahnsteig in Mannheim ist reges Treiben. Gepäckstücke und Taschen werden hektisch umhergereicht. Leute stehen im Weg, andere hechten schnell zum Bus oder zum nächsten Zug. Die Ruhe, die noch am Saarbrücker Bahnhof herrschte, ist jetzt endgültig vorbei. Immer mehr Reisende drängen in den Zug. In der Menschenmasse geht auch Sarg langsam unter, er hechtet vermutlich zum Anschlusszug. Für den 55-jährigen Saarbrücker ein ganz normaler Morgen.

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