Deutsch-türkische Entfremdung: „Feindlich und hasserfüllt“

Ankara · Schon vor dem Putschversuch war das Verhältnis zwischen Berlin und Ankara miserabel. In atemberaubender Geschwindigkeit driften jetzt auch die Gesellschaften auseinander – was aber noch alarmierender ist.

 Fethullah Gülen gilt als Erzfeind von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Foto: Sevi/dpa

Fethullah Gülen gilt als Erzfeind von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Foto: Sevi/dpa

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Botschafter Martin Erdmann ist ein diplomatisches Schwergewicht, er vertrat Deutschland schon bei der Nato , seit knapp einem Jahr ist er der höchste Repräsentant der Bundesrepublik in Ankara . Deutschland und die Türkei sind wichtige Partner, gerade in diesen dramatischen Zeiten gäbe es viel zu besprechen. Das scheitert allerdings daran, dass niemand in der Regierung Erdmann noch empfängt. Seit dem 2. Juni ist der deutsche Botschafter kaltgestellt.

An jenem Tag beschloss der Bundestag die Völkermord-Resolution zu den Armeniern, der Streit darüber ist nur vorübergehend von der Tagesordnung verdrängt worden. Noch bevor er beigelegt werden kann, droht schon ein neuer Konflikt: Außenminister Mevlüt Cavusoglu forderte gestern die Auslieferung mutmaßlicher Gülen-Anhänger, die nach dem Putschversuch nach Deutschland geflohen sein sollen. Das bedeutet neuen Sprengstoff für die Beziehungen zwischen Berlin und Ankara . Kanzlerin Angela Merkel reagierte gestern zurückhaltend.

Seit dem Umsturzversuch hat die Entfremdung zwischen Deutschland und der Türkei noch zugenommen - nicht nur zwischen den Regierungen, sondern vor allem zwischen den Gesellschaften beider Länder, was noch alarmierender ist. Kaum zwei Länder auf der Welt sind so untrennbar miteinander verwoben, obwohl sie kulturell so unterschiedlich sind.

Mustafa Yeneroglu sieht es als seine Aufgabe, "Brücken zu bauen" zwischen Deutschland, wo er aufgewachsen ist, und der Türkei, wo er seit einem Jahr für die Regierungspartei AKP im Parlament sitzt. Yeneroglu ist ein Vertrauter von Präsident Recep Tayyip Erdogan , der ihn im vergangenen Jahr zur Rückkehr in die Türkei drängte. Bis dahin lebte der heute 41-Jährige in Köln. In Yeneroglus Seele schlagen zwei Herzen, eines für jedes seiner Heimatländer. Umso mehr schmerzt ihn, dass die Gräben immer tiefer werden. "Die antitürkische Stimmung hat in Teilen Europas einen traurigen Höhepunkt erreicht", beklagt Yeneroglu - er beschreibt diese Stimmung als "irrational, oft feindlich, wenn nicht sogar als hasserfüllt". Yeneroglu sagt, ihn erreichten immer mehr E-Mails von Türken in Deutschland, die in Erwägung zögen, die Bundesrepublik zu verlassen.

"Bis jetzt war ich glücklich, aber nun kommt mir jeder Bericht wie eine Beschimpfung meiner Persönlichkeit und meines Landes vor", heißt es in einer dieser Mails. Ein Schreiber fragt: "Meinen Sie auch, dass die Türken in Europa daran denken sollten, in die Türkei zurückzukehren? Oder sollten wir diese Rassisten bekämpfen?" Resigniert der Ton einer weiteren Nachricht: "Wir sind weder hier zu Hause noch in der Türkei. Wir fühlen uns zu 100 Prozent türkisch, versuchen uns doch irgendwie als Deutsche zu fühlen und belügen uns selbst." Viele Türken - nicht nur Anhänger Erdogans - sehen sich und ihr Land nach dem Putschversuch falsch dargestellt. Sie werfen deutschen Medien vor, den Widerstand der Zivilisten, die sich Panzern in den Weg stellten, bestenfalls am Rande gewürdigt zu haben. Dabei hätten diese Türken genau jene Demokratie mit ihrem Leben verteidigt, die die EU und Deutschland in Ankara immer wieder einfordern. Stattdessen sei sofort wieder der moralische Zeigefinger erhoben worden.

Erdogan orientiert sich allerdings schon lange nicht mehr an der EU. Die Massenfestnahmen dauern an, mehr als ein Drittel der türkischen Generäle sitzt inzwischen in Untersuchungshaft, per Notstandsdekret lässt der Präsident in der Nacht zu gestern Dutzende Medien schließen. Erdogan hält die drastischen Maßnahmen gegen mutmaßliche Anhänger des Predigers Fethullah Gülen für gerechtfertigt, weil es nach seinen Worten um das Überleben der Demokratie in der Türkei geht - die wiederum viele Deutsche längst abgeschrieben haben. Die Regierung befindet sich nach eigenem Verständnis im Kampf gegen eine Terrororganisation, die alle staatlichen Instanzen unterwandert hat. Aus Sicht Ankaras sind die Gülen-Anhänger somit gefährlicher als die Terrormiliz IS.

Wie tief die Gräben sind, zeigt eine Umfrage des Instituts YouGov in Deutschland aus der vergangenen Woche. Mehr als 80 Prozent finden das Vorgehen Erdogans gegen Verdächtige unangemessen. Fast zwei Drittel halten es für wahrscheinlich, dass Erdogan den Putsch mit inszeniert haben könnte. Am kommenden Wochenende wird wieder zu beobachten sein, wie die türkische Politik auf deutsche Straßen überschwappt - in Köln werden 15 000 Pro-Erdogan-Demonstranten erwartet. Schon wird Kritik aus der Union daran laut, und schon argwöhnen AKP-Anhänger, in Deutschland solle die Versammlungsfreiheit wohl nur für Erdogan-Gegner gelten.

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