Mailand, drei Uhr, ein Todesschuss

Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter sieht im Fall Amri Vollzugsfehler. Als islamistischer Gefährder hätte sich der Tunesier gar nicht frei in Deutschland bewegen dürfen, erklärte Hofreiter SZ-Korrespondent Stefan Vetter.

Es sind zwei junge Polizisten , die am frühen Freitagmorgen in der Mailänder Vorstadt auf Streife gehen. Cristian M., 36 Jahre alt und Luca S., 29 Jahre alt und gerade einmal neun Monate im Dienst. Einen Tag vor Weihnachten sind die beiden nachts im Streifenwagen in Sesto San Giovanni unterwegs, ein trostloser Vorort im Mailänder Speckgürtel. Es ist eine Routine-Streife, deren Ende in der ganzen Welt für Aufsehen sorgen wird. "Dank Personen wie diesen können die Italiener noch glücklichere Weihnachten feiern", schwärmt der italienische Innenminister Marco Minniti später.

Denn zu diesem Zeitpunkt ist klar: Die beiden Polizisten haben Anis Amri, den mutmaßlichen Attentäter von Berlin, gestellt und nach einer Schießerei getötet. Es handele sich bei dem Toten "zweifelsfrei" um Amri, bestätigt Minniti. Auch Generalbundesanwalt Peter Frank erklärt das am Freitag und betont, nach dem Tod des mutmaßlichen islamistischen Terroristen werde weiter ermittelt, ob er ein Unterstützernetzwerk oder Gehilfen hatte. Kanzlerin Angela Merkel (CDU ) kündigte eine rasche Überprüfung an, "inwieweit staatliche Maßnahmen verändert werden müssen". Sie dringt auf schnellere Abschiebungen nach Tunesien. Weiter sagte sie: "Wir können zum Ende dieser Woche erleichtert sein, dass eine akute Gefahr beendet ist. Die Gefahr des Terrorismus insgesamt besteht jedoch wie seit vielen Jahren weiter."

Nach dem 24-jährigen Amri war europaweit gefahndet worden, weil er dringend verdächtigt wurde, am Montag zwölf Menschen bei einem terroristischen Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt getötet und mehr als 50 verletzt zu haben. Amris Fingerabdrücke wurden mehrfach an dem Lkw sichergestellt. Möglicherweise, so berichten italienische Medien, tötete Amri den Fahrer mit derselben Waffe, die er später auch in Mailand zieht.

Es ist kurz nach drei Uhr morgens, als die beiden Polizisten einen jungen Mann vor dem Bahnhof von Sesto San Giovanni laufen sehen. Die Mailänder Polizei hat zu diesem Zeitpunkt keinerlei Hinweise, dass sich Amri in Italien aufhalten könnte. Cristian M. fordert den Passanten auf, sich auszuweisen. Der antwortet in gebrochenem Italienisch, er führe keine Dokumente mit sich und stamme aus Kalabrien. Als die Beamten den Inhalt seines Rucksacks sehen wollen, zieht der Verdächtige eine geladene Pistole, Kaliber 22, und eröffnet sofort das Feuer. Dann schimpft er auf die Polizisten , sie seien "Bastarde". So berichtet es am Freitagmittag der Mailänder Polizeichef Antonio De Iesu.

Der Polizist Cristian M. geht zu Boden. Der Schuss hat ihn an der Schulter verletzt. Sein Kollege Luca S. zieht seine Dienstwaffe. Er gibt zwei Schüsse auf den Verdächtigen ab, der tödlich getroffen zu Boden sinkt.

In Amris Rucksack werden später mehrere Hundert Euro sowie ein kleines Messer gefunden. Außerdem ein Zugticket. Danach ist er aus der französischen Stadt Chambéry in den Savoyer Alpen am Donnerstag über Turin bis Mailand gereist.

Noch in der Nacht wird der verletzte Polizist ins Krankenhaus transportiert und operiert. Er schwebt nicht in Lebensgefahr. In Italien war Amri kein Unbekannter. Über Lampedusa gelangte der Tunesier 2011 nach Sizilien, saß wegen Brandstiftung und Körperverletzung vier Jahre in Haft. 2015 floh er nach Deutschland.

Dorthin übermitteln die italienischen Behörden am Freitagmorgen ihren Fahndungserfolg. Der italienische Ministerpräsident Paolo Gentiloni überbringt Kanzlerin Merkel per Telefon die Nachricht. In Rom herrscht Stolz. In Berlin ist man erleichtert.

Doch es bleiben Fragen offen. Das IS-Sprachrohr Amak veröffentlicht am Freitag ein Video, auf dem Amri zu sehen sein soll. In der knapp dreiminütigen Aufnahme schwört er dem Anführer der Terrormiliz Islamischer Staat (IS), Abu Bakr al-Bagdadi, die Treue. Die Echtheit des Videos wird geprüft.

Ebenso unklar ist, wie sich Amri vier Tage lang trotz einer Großfahndung frei durch halb Europa bewegen konnte. Justizminister Heiko Maas (SPD ) und Innenminister Thomas de Maizière (CDU ) kündigten rasche Beratungen über Konsequenzen aus dem Terroranschlag an. Im Januar werde es bei Gesprächen um Fragen der Abschiebung gehen und darum, "wie Gefährder noch besser überwacht werden können", sagte Maas. Die Ermittlungen im Fall Amri laufen weiter.Herr Hofreiter, was haben Sie bei der Nachricht über die Erschießung des mutmaßlichen Berlin-Attentäters in Italien gedacht?

Hofreiter: Ich war erleichtert, dass der mutmaßliche Täter nicht mehr frei herumläuft. Für die Aufklärung des Falls ist sein Tod allerdings ein Rückschlag, weil man ihn nun nicht mehr befragen kann.

Wie erklären Sie sich, dass ein potenzieller Terrorist ungestört durch Deutschland und halb Europa reisen konnte?

Hofreiter: Die Ermittlungen laufen ja noch. Es muss dann noch genau geprüft werden, was da bei den Sicherheitsbehörden schief gelaufen ist. In Deutschland sind rund 550 islamistische Gefährder erfasst. Davon ist ungefähr die Hälfte im Ausland, vor allem in Syrien und im Irak. Von der anderen Hälfte, die hier ist, sitzen etwa 80 Personen im Gefängnis. Bleiben also noch knapp 200 übrig. Und zu denen hat Anis Amri gehört. Er galt als Top-Gefährder. Warum es trotzdem keine wirksame Überwachung gab, ist mir ein großes Rätsel. Auf heutiger gesetzlicher Grundlage hätte es die Möglichkeit gegeben, einen Gefährder wie Amri umfassend zu überwachen.

Müssen die Grünen jetzt Ihre Zuwanderungs- und Sicherheitsvorstellungen überdenken?

Hofreiter: Nein. Die Grünen fordern schon seit längerer Zeit mehr Polizei und Reformen bei den Sicherheitsbehörden . Nach allem, was man bislang erkennen kann, haben wir im vorliegenden Fall kein Gesetzesdefizit, sondern ein Vollzugsdefizit. Zuständig sind in erster Linie Behörden, für die seit elf Jahren Minister aus der Union zuständig sind.

Ihre Partei blockiert einen Gesetzentwurf, der auch Tunesien zum sicheren Herkunftsland erklärt. Wäre der längst umgesetzt, hätte Amri womöglich gar nicht erst zuschlagen können.

Hofreiter: Das ist falsch. Wenn man ein Land zum sicheren Herkunftsstaat erklärt, dann wird es schwerer, in Deutschland Asyl zu bekommen. Bei dem potenziellen Attentäter war das Asylbegehren aber ja bereits abgelehnt worden. Nach heutigem Wissensstand ist die Abschiebung vor allem an fehlenden Papieren gescheitert und eben nicht an der Frage der Einstufung eines Landes als sicheres Herkunftsland. Insofern ist dies zuallererst eine Frage von Rücknahmeabkommen, und auch hier wäre die Bundesregierung gefragt.

Meinung:

Erleichterung und Unbehagen

Von SZ-Korrespondent Stefan Vetter

Jeder vernünftig denkende Mensch muss Erleichterung empfunden haben, als sich bestätigte, dass die Flucht des mutmaßlichen Attentäters von Berlin zu Ende ist. In die Erleichterung mischt sich allerdings auch viel Unbehagen. Wie konnte ein als Gefährder eingestufter Islamist binnen weniger Tage so leicht bis nach Mailand kommen? Welche Rolle haben die deutschen Sicherheitsbehörden dabei gespielt? Versprachen sie sich von Amri womöglich brisante Informationen und ließen ihn deshalb ungestört durchs Land ziehen? Das Vertrauen in den Sicherheitsapparat ist auf jeden Fall angekratzt. Bundesinnenminister de Maizière hat völlig Recht: Die Zeit des Abwartens ist jetzt vorbei. Nun muss über Konsequenzen gesprochen werden.

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