Verscharren, was nicht sein darf

Tuam · Ein Massengrab mit Hunderten Föten und Kleinkindern bringt Irlands dunkle Geschichte zutage. Nicht eheliche Kinder wurden „beseitigt“. Sie galten in dem katholischen Land als größte Sünde. Der Fund ist nur der Anfang, sagen Experten.

Er gehört zu jenen, die Glück hatten: Patrick Joseph Haverty hat überlebt. Und doch wühlten ihn die Erkenntnisse der vergangenen Monate auf. Nicht etwa, weil der Ire die schrecklichen Erinnerungen aus seiner Kindheit verdrängte, sondern weil er sie stets erzählen wollte, aber lange auf taube Ohren stieß. Erst jetzt wird er gehört - nachdem all die Grausamkeiten ans Licht kommen, die jahrzehntelang im katholisch geprägten Irland stattgefunden haben. So hat eine von der Regierung in Dublin eingesetzte Untersuchungskommission Berichte bestätigt, nach denen in einer von Nonnen geführten Einrichtung im westirischen Tuam Babys und Kleinkinder in Massengräbern verscharrt wurden. Die meisten davon in den 50er Jahren.

Es handelte sich um das Mutter-Kind-Heim "St. Mary's Mother and Baby Home", in dem auch Haverty ab 1951 die ersten fünfeinhalb Jahre seines Lebens verbrachte - gezwungenermaßen. Er wurde seiner Mutter, die nicht mit seinem Vater verheiratet war, weggenommen und zur Adoption freigegeben. Und das, obwohl sie "jeden Tag an die Tür klopfte und versuchte, mich zu sich zu nehmen". Die Nonnen schickten sie stets wieder weg. Auf genau dem Gelände haben Experten unterirdische Anlagen mit 20 Kammern entdeckt. In 17 davon fanden sie "erhebliche Mengen menschlicher Überreste". Föten, Babys und Kleinkinder im Alter von bis zu drei Jahren wurden offenbar in einfache Leichentücher gehüllt und in der alten Abwassergrube vergraben - völlig anonym. Särge gab es nicht. Paul Redmond, Vorsitzender der Betroffenen-Organisation "Koalition der Überlebenden der Mutter-Kind-Heime", sagte, der aktuelle Fund sei "nur die Spitze des Eisbergs". Er schätzt, dass mindestens 6000 Kinder aus neun irischen Heimen in Massengräbern verscharrt wurden, viele davon in Schuhkartons gesteckt oder in Teppiche eingewickelt. Auch die Wissenschaftlerin Catherine Corless meint, die aktuellen Funde seien "nur der Anfang".

Corless, die aus Tuam stammt, löste die jetzigen Untersuchungen durch ihre Recherchen im Jahr 2014 aus, obwohl es schon zuvor Indizien gab. Insbesondere nachdem vor mehr als 30 Jahren der zwölfjährige Barry Sweeney und sein Freund in Tuam beim Spielen eine Betonplatte aufstemmten und eine grausige Entdeckung machten: "Der Raum war gefüllt mit Skeletten", so Sweeney. Damals sorgte der Fund kaum für Furore. "Der Priester kam vorbei und segnete die Grabstätte." Die Behörden dachten, die Knochen gehörten den Opfern einer Hungersnot aus der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Catherine Corless glaubte das nicht. Sie wollte herausfinden, wessen Skelette da übereinander geschichtet lagen. Für ihre Recherchen durchforstete sie die Geburts- und Todesregister der Region und fand heraus, dass im Laufe von mehr als drei Jahrzehnten 796 Kinder, die in dem Heim in Tuam gelebt hatten, ums Leben gekommen waren. Die meisten Toten waren zwischen drei Wochen und 13 Monate alt. Doch nur für ein Kind fand Corless Nachweise für eine Beerdigung.

Ihre Forschungsergebnisse schockten im Sommer 2014 die Republik. Betroffen war der katholische Frauenorden "Bon Secours", der von 1925 bis 1961 das besagte Heim betrieb. Hierhin kamen all jene Frauen, die im erzkatholischen Irland vor dem gesellschaftlichen Skandal flüchteten, unverheiratet schwanger zu sein. Auch Vergewaltigungen machten dabei keinen Unterschied. Die Einrichtung besaß einen zweifelhaften Ruf. Die Nonnen vernachlässigten die Babys; sie starben an den Folgen von Unterernährung oder an Tuberkulose, Lungenentzündungen und Masern. Frauen wurden als Arbeitskräfte ausgebeutet.

Weitere wissenschaftliche Untersuchungen sollen folgen, um die Todesursachen zu klären. Unter einem Kinderspielplatz werden außerdem weitere menschliche Überreste vermutet. Katherine Zappone, Kinderbeauftragte der Regierung, nannte die Ergebnisse "traurig und verstörend".

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort