Ein deutsches Herz schlägt in Rio

Rio de Janeiro · Am 15. August stirbt während Olympia der deutsche Kanu-Trainer Stefan Henze. Sein Herz wird transplantiert. Es schenkt einer Brasilianerin in Rio ein zweites Leben. Im Geiste ist Henze an Weihnachten dabei.

 Die Brasilianerin Ivonette Balthazar (Mitte) – hier mit Mutter Ivette und Sohn Fabio – war dem Tod geweiht. Der deutsche Kanu-Trainer Stefan Henze rettete ihr das Leben. Foto: dpa

Die Brasilianerin Ivonette Balthazar (Mitte) – hier mit Mutter Ivette und Sohn Fabio – war dem Tod geweiht. Der deutsche Kanu-Trainer Stefan Henze rettete ihr das Leben. Foto: dpa

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In einer kleinen 50-Quadratmeter-Wohnung in der Rua Antônio Basílio lebt das Herz von Stefan Henze weiter - zwei Kilometer entfernt vom Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro . Nicht weit davon entfernt war der Kanu-Trainer im Sommer bei einem Unfall gestorben.

Im Wohn-Esszimmer von Ivonette Balthazar (66) steht neben dem Fernseher ein Plastik-Tannenbaum mit Glitzerlichtern, draußen brennt die Sonne. Als im Laufe des Gesprächs die Frage nach der Bedeutung des diesjährigen Weihnachtsfestes gestellt wird, kullern die Tränen. "Ich bin ihm so dankbar." Ihre 86-jährige Mutter verliert die Fassung, muss den Raum verlassen. Ivonette Balthazar denkt aber auch an die Familie des toten deutschen Trainers, die ein ganz anderes Weihnachten erleben wird.

Balthazar muss noch Mundschutz tragen, der Bakterien wegen, deswegen kann sie auch nur gekochtes Obst und Gemüse essen. An ihrer Brust ist noch der lange Schnitt von der Operation zu sehen. So langsam kann sie die Wohnung wieder verlassen, ihr großes Ziel ist im April ein Zwei-Kilometer-Lauf, daran will sie mit anderen Organempfängern teilnehmen.

Aus der Zeitung hat sie erfahren, wer ihr Leben rettete. Gemäß der brasilianischen Gesetze darf der Name des Spenders eigentlich nicht genannt werden. Aber was ist schon normal an dieser so tragischen Olympia-Geschichte?

Rückblick: 5. August, Rio de Janeiro feiert die Olympischen Spiele, Gisele Bündchen läuft bei der Eröffnungsfeier als "Girl from Ipanema" zur Musik des Bossa-Nova-Klassikers einmal quer durchs Maracanã-Stadion.

Ivonette Balthazar ist zu dem Zeitpunkt zu Hause dem Tod geweiht. Nach einem schweren Herzinfarkt 2012 wird es immer schlechter, nur noch 30 Prozent des Herzens funktionieren. "Ich lag die ganze Zeit im Bett, konnte mich fast noch nicht mal mehr anziehen." 18 Monate ist sie auf einer Liste für ein Spenderorgan. Sie wartet, wartet und wird immer schwächer.

Im Morgengrauen des 12. August ist ein Taxi zurück auf dem Weg Richtung Olympiadorf im Stadtteil Barra. An Bord Stefan Henze, Assistenztrainer der deutschen Slalom-Kanuten, und Teambetreuer Christian Käding. Auf der breiten Avenida das Américas kommt das Taxi bei hohem Tempo von der Straße ab, prallt gegen einen Mast. Henze erleidet ein Schädel-Hirn-Trauma, Käding wird leicht verletzt.

Auch wenn das deutsche Olympia-Team die Rettungskette ausdrücklich lobt: Henze wird zunächst in das Olympia-Hospital Lourenço Jorge im Staddteil Barra gebracht. Das hat aber gar keine neurochirurgische Abteilung. Er muss in eine Spezialklinik, das Hospital Miguel Couto, verlegt werden, sie ist 21 Kilometer entfernt. Henzes Eltern und sein Bruder reisen nach Rio . Die Ärzte kämpfen.

Am 15. August stirbt Henze - mit 35 Jahren. Die deutschen Fahnen in Rio werden auf Halbmast gesetzt. Bei Olympia in Athen 2004 war Henze noch als Athlet dabei, gewann Silber im Zweier-Canadier, bevor er später Trainer wurde.

Henze hat einen Organspendeausweis. Es gibt Grünes Licht für die Entnahme von Herz, Leber und Nieren. Am 15. August um 17.30 Uhr klingelt bei Ivonette Balthazar das Telefon. 15 Minuten später ist sie schon im im Instituto Nacional de Cardiologia (INC). Um 22 Uhr kommt Henzes Herz an, sechs Stunden dauert die Transplantation. "Ich hatte keine Ahnung, von wem das Herz ist", sagt sie rückblickend.

Es gibt Probleme, weil das Athletenherz kleiner ist als ihres, die kommenden Monatesind immer wieder von Rückschlägen geprägt. Die frühere Verwaltungsangestellte muss jeden Tag unter anderem sechs Viagra-Pillen nehmen, damit sich die Arterien weiten. Aber jetzt geht es bergauf. Und wie ist das Herz? "Es ist kaum zu beschreiben. Ich habe meine Freiheit zurückgewonnen." Beim deutschen Generalkonsulat in Rio hat sie ein Dankesschreiben an Henzes Familie übergeben - kurz nachdem sie erfahren hatten, wer der Spender ist. Sie würde sich über ein Treffen mit der Familie riesig freuen, sagt Balthazar.

Zwei Kinder hat sie, Sohn Fabio (43) und Tochter Renata (39), die ihr fünf Enkel beschert haben. Die Allerglücklichste scheint ihre Mutter Ivette zu sein. Sie macht den Eindruck, sie könnte die ganze Welt dafür umarmen, dass nicht die eigene Tochter vor ihr sterben musste.

An Weihnachten wird es den beliebtesten Fisch der brasilianischen Küche, Bacalhau, in rauen Mengen geben. Gefeiert wird bei Sohn Fabio, 18 Leute werden sie insgesamt sein. Aber für Ivonette Balthazar ist in diesem Jahr noch jemand dabei. "Mit ihm werden wir 19 sein", sagt sie.

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