Akt der Menschlichkeit ist zugleich eine Chance

Bonn · Viele tausende Menschen, vor allem aus Nordafrika und dem Nahen Osten, haben in den letzten Jahrzehnten an den EU-Grenzen ihr Leben verloren. Die humanitäre Katastrophe im Mittelmeer dieser Tage ist nur ein weiteres, besonders dramatisches Beispiel.

Angesichts der vielen Bürgerkriege, Krisen und Katastrophen muss sich Europa auf sehr langfristige Herausforderungen einstellen.

Überzeugende Konzepte fehlen bislang. Die bisherigen Ansätze haben die Menschen weder von der Flucht nach Europa abhalten können, noch ist eine angemessene, verantwortungsbewusste Verteilung der Flüchtlinge innerhalb der EU gelungen.

Im Mittelpunkt einer nachhaltigen Lösung muss die Überzeugung stehen: Europa, selbst ein Ergebnis vieler ethnischer Wurzeln, darf nicht länger als abweisende Festung wahrgenommen werden. Die Abschottungspolitik ist gescheitert. Jetzt brauchen wir eine europaweite Zuwanderungspolitik, die auch die Potenziale von Flüchtlingen und Asylsuchenden anerkennt. Ein beachtlicher Teil der Flüchtlinge bringt nämlich gute berufliche Qualifikationen mit, die auf vielen europäischen Arbeitsmärkten, gerade auch in Deutschland, gebraucht werden. Ein großer Teil dieser Menschen ist nicht nur jung, sondern auch motiviert. Viele von ihnen sind "hochmobil, flexibel, mehrsprachig, leistungs- und risikobereit", wie es Bundespräsident Joachim Gauck erst kürzlich formuliert hat.

Diese Flüchtlinge suchen ihr Lebensglück zu einem Zeitpunkt bei uns, da Europa immer älter wird. Auch wird die Arbeitsbevölkerung in den EU-Mitgliedsstaaten in den nächsten Jahrzehnten erheblich schrumpfen. In Europa werden also nicht nur die Arbeitnehmer knapp, auch die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme wird immer schwieriger. Dies bedroht unseren Lebensstandard direkt. Mehr, erheblich mehr Zuwanderung könnte mithelfen, dies zu vermeiden.

Ein erster Schritt ist, dass sich auch Flüchtlinge und Asylbewerber, die schon im Lande leben, entsprechend ihren Fähigkeiten unbürokratisch um eine Arbeitserlaubnis neben ihrem Anerkennungsverfahren bewerben können. Zwar hat es hier kürzlich Verbesserungen gegeben, aber die Arbeitsintegration muss aktiv gestärkt, ja sogar aktiv eingefordert werden. So können die Migranten selbst zu ihrem Lebensunterhalt beitragen, sich weiter qualifizieren, statt zur Untätigkeit gezwungen zu werden. Flüchtling ist schließlich kein Beruf, sondern eine Notsituation. Dies stärkt ihre Akzeptanz in der deutschen Gesellschaft ebenso wie das Selbstbewusstsein der Zuwanderer. Im Falle ihrer Rückkehr können sie beim Aufbau ihrer heimischen Wirtschaft wertvolle Erfahrungen einbringen.

Europa braucht, will es den Wohlstand seiner Einwohner sichern, nicht etwa weniger Zuwanderung, wohl aber eine bessere Steuerung des Zuzugs und zugleich eine besser abgestimmte Asyl- und Flüchtlingspolitik. Wenn die künftige Asyl- und Migrationspolitik auf diesen Erkenntnissen aufbaut, wird aus einem Akt der Menschlichkeit zugleich eine Chance. Und zwar für beide Seiten. Das Gebot humanitärer Verantwortung verbindet sich mit ökonomischer Vernunft.

Klaus F. Zimmermann ist Direktor des unabhängigen Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) und berät unter anderem die EU-Kommission in Fragen der Arbeitsmarkt- und Migrationspolitik.

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