Der große Zug

Der Anblick der Züge mit tausenden Asylbewerbern aus Syrien, Afghanistan und anderswo weckt tiefe emotionale Erinnerungen. Im Juli 1989 kamen viele DDR-Bürger aus Prag per Bahn im Westen an. Kurz darauf richtete Bayern für sie ein Notaufnahmelager ein.

Und fast auf den Tag genau vor 26 Jahren gewährte Ungarn den dort ausharrenden Ostdeutschen die Ausreise über Österreich in die Bundesrepublik. Es war ein zutiefst humanitärer Akt, ohne den die Lage vermutlich außer Kontrolle geraten wäre.

In gewisser Hinsicht wiederholt sich nun die Geschichte, auch wenn Ungarn für Asylbewerber mittlerweile zum Alptraum geworden ist. Die Erleichterung, es geschafft zu haben, und die Hoffnung auf ein besseres Leben in Deutschland stehen den Neuankömmlingen ins Gesicht geschrieben. Ganz so wie einst im deutschen Wendejahr. Zweifellos ist die Entscheidung von Angela Merkel richtig: Sie musste grünes Licht für die Züge aus Österreich geben. Es war ein Gebot der Menschlichkeit. Das Dubliner Abkommen, wonach Flüchtlinge in dem EU-Land bleiben sollen, in dem sie zuerst anlanden, ist ohnehin mausetot. In der Praxis hält sich kaum noch jemand daran.

Wahr ist allerdings auch, dass Emotionen auf Dauer keine Probleme lösen. Man mag die CSU für kaltherzig halten, weil sie Merkels Entschluss kritisiert. Doch der Einwand, nun werde sich der Flüchtlingsansturm auf Deutschland so verstärken, dass man ihm womöglich kaum noch gewachsen ist, lässt sich nicht so leicht vom Tisch wischen. Deshalb besteht tatsächlich dringender Handlungsbedarf auf europäischer Ebene. Nach allem, was am Wochenende durchgesickert ist, plant die EU-Kommission, jene Länder zur Kasse zu bitten, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen. Womöglich ist das der bessere Weg, als auf starre Aufnahmequoten zu pochen. Denn selbst wenn es sie gäbe, ist noch lange nicht gesagt, dass sich auch die Flüchtlinge daran halten würden.

Deutschland steht ja bei Asylwerbern nicht nur deshalb so hoch im Kurs, weil hier die Wirtschaft gut funktioniert, toll Fußball gespielt wird und die Willkommenskultur trotz aller rechtsextremen Scheußlichkeiten (immer noch) bewundernswert ist. Die Anziehungskraft hat vor allem mit den bereits hier lebenden Landsleuten zu tun. Zur Jahresmitte waren hierzulande allein 160 000 Bürger aus Syrien registriert. Das sind 160 000 Verwandte und damit auch 160 000 Möglichkeiten, leichter in Deutschland Fuß zu fassen als anderswo. Klar ist zudem: Wer sich einmal von Syrien aus hierher durchgeschlagen hat, der dürfte sich auf Dauer erst recht nicht davon abhalten lassen, aus Polen oder Tschechien wieder zu uns zu gelangen. Diese Tatsache ist die eigentliche Herausforderung für Deutschland, und auch sie weckt so viele Erinnerungen an die Wendezeit.

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