Einmal in die Hölle und zurück

Washington · Das Guillain-Barré-Syndrom kann Menschen innerhalb kürzester Zeit von Kopf bis Fuß lähmen. Dies ist die Geschichte des in den USA lebenden SZ-Mitarbeiters Friedemann Diederichs und seines Kampfes gegen die Krankheit.

 Wieder gesund: SZ-Mitarbeiter Friedemann Diederichs hat die heimtückische Nervenkrankheit Guillain-Barré-Syndrom besiegt.

Wieder gesund: SZ-Mitarbeiter Friedemann Diederichs hat die heimtückische Nervenkrankheit Guillain-Barré-Syndrom besiegt.

 Künstlich beatmet im Krankenbett: Friedemann Diederichs im Januar 2013 im Virginia-Mason-Krankenhaus in Seattle. Fotos: Diederichs

Künstlich beatmet im Krankenbett: Friedemann Diederichs im Januar 2013 im Virginia-Mason-Krankenhaus in Seattle. Fotos: Diederichs

"Schmerz ist gut. Schmerz ist dein Freund. Wenn du Schmerz fühlst, weißt du, dass du noch am Leben bist." - ein Drill-Sergeant im Hollywood-Film "GI Jane". Das, was mich über Nacht wie einen morschen Baum im Herbststurm fällen und lähmen sollte, schleicht sich ganz ohne Schmerzen heran. Nur ein leichtes Kribbeln und eine Taubheit in den Zehen, drei oder vier Tage lang. Ich, der Amateur-Mediziner, versuche mich sorglos an einer Eigendiagnose. "Vermutlich zu viel Blutzucker." Die Woche zuvor hatte ich erfahren, dass ich irgendwann mit Diabetes rechnen müsste. Ernährungssünden eines Reporterlebens. Kein Grund, die Dienstreise Anfang Dezember nach Seattle zu verschieben.

24 Stunden später. Ich, 55 Jahre alt und mein Leben lang auf Fitness bedacht, liege hilflos auf dem Boden meines Hotelzimmers. Unfähig aufzustehen und die wenigen Schritte ins Bad zu gehen. Gelähmt ohne Vorwarnung. 15 Minuten später sind die Sanitäter da und bringen mich in die Notaufnahme des Virginia-Mason-Krankenhauses. Es folgt die Routine: Blutabnahme, EKG. Dann ein langer Test der Reflexe in den Beinen und Armen. "Mein Mann möchte in drei Stunden am Flughafen sein", drängt meine Frau. "Er geht erst einmal nirgendwo hin", lautet Dr. David Franks schnelle Antwort. "Er wird länger bleiben müssen."

Erstmals fallen nun die Worte "Polyneuritis" und "Guillain-Barré-Syndrom", im Medizinerjargon GBS genannt. Es klingt exotisch und irgendwie gar nicht gefährlich. Nur 20 Minuten hat die Untersuchung gedauert. Später lerne ich, dass Dr. Frank mit dieser kurzen Dia gnosezeit wohl einen Orden verdient hätte. Denn die Krankheit, benannt nach zwei französischen Ärzten, die die Symptome erstmals 1916 gut beschrieben hatten, attackiert nicht nur heimtückisch wie ein Heckenschütze. Sie ist recht selten - nur ein bis zwei von 100 000 Menschen erkranken statistisch gesehen daran. Ihre Erstsymptome könnten auch auf andere Probleme wie Multiple Sklerose hindeuten - und werden von Ärzten gelegentlich fehlinterpretiert.

Bei "Guillain Barré" beginnt ein irritiertes Immunsystem plötzlich, den Schutzmantel um die aus dem Rückenmark tretenden Nervenwurzeln und um die peripheren Nerven anzugreifen. Die Krankheit zeigt sich in der Regel erstmals mit plötzlicher Muskelschwäche in den Händen und Füßen, die dann aufsteigt. Bei manchen versagen auch die Hals- und Brustmuskeln, was die Fähigkeit zum Atmen und Schlucken beeinflussen kann. Es gibt leichte und schwere Fälle. Ich werde zu letzterer Kategorie gehören. "Sie werden wohl die meisten Funktionen zurückbekommen", verspricht Dr. Bartscher, "aber vorher wird es Ihnen schlechter gehen." Eine Erholung könne einige Wochen, aber auch mehr als zwei Jahre dauern. Meiner Frau vertraut er an: "Ihr Mann kann auch sterben."

Ich werde auf die Intensivstation verlegt. Ein Arzt lässt mich immer wieder in eine Plastikröhre mit einem kleinen Ball pusten, um die Lungenkraft zu testen. Ich merke, dass die Werte bei jedem Versuch schlechter werden. Blanke Angst vor dem Ersticken macht sich breit. Gleichzeitig fühle ich, wie die Hände schwächer werden. Zum ersten Mal verspüre ich Panik. Meine Frau hat den Laptop aus dem Hotel geholt. Ich tippe so schnell wie möglich Hinweise: Pin-Nummern für meine Bankkarten. Wo sie im Büro-Chaos Unterlagen finden kann. Was an Rechnungen fällig ist. Dann schreibe ich mit zitternden Fingern an die Zeitungs-Redaktionen in Deutschland: Ich werde wohl einige Wochen ausfallen.

Dass daraus die schwersten sechs Monate meines Lebens werden würden, ahne ich noch nicht. Monate, die auch zwei Wochen mit einer Beatmungssonde auf der Intensivstation umfassen. Ich habe die Kontrolle über alle wichtigen Muskeln verloren. Lediglich mit dem linken Auge kann ich zwinkern. Einmal zwinkern: Ja. Zweimal: Nein. Schwestern halten Buchstabentafeln hoch. Ich werde bald durch einen Schlauch im Magen ernährt. Alle zwei Stunden wenden, um Druckstellen auf meinem Körper zu vermeiden, der aufgrund der Lähmung Muskelmasse im Eiltempo verliert. Hinzu gesellt sich plötzlich eine Lungenentzündung mit hohem Fieber während der künstlichen Beatmung . Einige Tage gelte ich als "kritisch". Man weist meine Frau am Telefon darauf hin, wie ein Pfarrer zu erreichen ist.

Die Erinnerungen sind neblig an diese Zeit, in der bis zu 23 Medikamente am Tag das Leiden lindern sollen. Dazu kommen die Versuche der Neurologen, mit gezielten Therapien die schwerste Phase der Krankheit - das "Plateau" - abzukürzen. Irgendwann merke ich, dass sich die linke Hand wieder einige Millimeter anheben lässt. Mit leichten Kopfbewegungen kann ich erstmals den roten Rufknopf auf dem Kissen drücken. Und dann sagen die Internisten: Wir können es bald ohne die künstliche Beatmung versuchen.

Vier Wochen nach dem Zusammenbruch im Hotel geht es im Schneckentempo aufwärts. Doch die Schmerzen in den Gliedmaßen bleiben. "Das Schlimmste ist vorbei", sagt Dr. James Bartscher Mitte Januar. Wirklich? Ein Lift hebt meinen um 40 Pfund abgemagerten Körper erstmals aus dem Bett. Ich schreie, als die Tragegurte das Gewicht halten, ins Fleisch schneiden und mich in einen Rollstuhl platzieren.

"Du machst Fortschritte", versichert meine Frau immer wieder. Doch der Glaube an eine vollständige Heilung fällt weiter schwer - auch nach der Verlegung in ein Reha-Zentrum. Tage der Depression sind unvermeidlich. Das zweite Leben beginnt mit mühsamen ersten Mini-Schritten: Der erste Teelöffel Apfelmus, als das Schlucken wieder möglich ist. Das erste hingekritzelte Wort, als die steifen Finger wieder einen Stift halten können. Der erste kurze Ausflug nach draußen im Rollstuhl. Im Zeitlupentempo gewinnen die Nerven ihre Funktionsfähigkeit zurück. "Sie können GBS auch mit ‚Getting Better Slowly' (langsam gesund werden) übersetzen", kalauert Dr. Bartscher. Wie treffend. Der Patient lernt das, was er im hektischen Reporterleben nie besaß: Geduld.

Gleichzeitig beginnt die Zeit der moralischen Aufrüstung. In den Pausen zwischen den gnadenlos anstrengenden Therapie-Einheiten lese ich, wer ebenfalls mit GBS zu kämpfen hatte - und sich erholte: der frühere Nationalspieler Markus Babbel . US-Präsident Franklin D. Roosevelt. Hollywood-Schauspieler Andy Griffith ("Matlock"). Der britische Politiker Tony Benn. Das inspiriert. Mitte April mache ich die ersten vorsichtigen Schritte auf dem Klinikflur mit einer Gehhilfe. Täglich werden die Distanzen größer. Am 1. Juni, nach einem halben Jahr in Krankenzimmern, werde ich nach Hause entlassen. Dreimal die Woche kommt ein Therapeut. Schon nach vier Wochen gehe ich die ersten vorsichtigen Schritte mit dem Stock. Der Rollstuhl wird ausrangiert.

Ich rätsele immer noch, was GBS bei mir ausgelöst hat. Zwei Drittel aller Patienten hatten in den Wochen vor dem Ausbruch eine Atemwegs-Infektion oder Durchfall-Erkrankung. Ich litt kurz vor dem Seattle-Trip unter einer Bronchitis. Auch die Grippe-Schutzimpfung stand lange unter Verdacht, GBS zu begünstigen - doch klare Beweise wurden dafür bisher nicht erbracht. Es ist eine Frage, die für mich in den Hintergrund gerückt ist. Denn die Normalität ist heute, zwei Jahre nach der Entlassung, weitgehend zurückgekehrt. Bis auf Gehhilfen, die die noch teilweise paralysierten Füße in korrekter Position halten, benötige ich keine Hilfsmittel mehr. Ich arbeite wieder, fahre Auto, reise mit dem Flugzeug. Dreimal in der Woche bin ich im Fitness-Studio. Nur der etwas schlurfende Gang verrät noch die Reste der schweren Krankheit. Ich habe GBS besiegt. Und meine Ärzte , denen ich oft nicht glauben wollte, haben recht behalten.

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