Einhändig durch die Lüfte: Fallschirmspringerin mit Handicap nimmt an Deutschen Meisterschaften in Düren teil

Wallerfangen · Claudia Breidbachs Passion ist das Fallschirmspringen. Als Teil des Teams Karma nimmt die 44-Jährige an der Deutschen Meisterschaft teil. Dabei fehlt ihr von Geburt an die linke Hand. Doch davon lässt sich die Springerin nicht bremsen.

 Das Team Karma im freien Fall am Himmel über Wallerfangen in der Stern-Formation. Foto: Torge Sulkiewicz

Das Team Karma im freien Fall am Himmel über Wallerfangen in der Stern-Formation. Foto: Torge Sulkiewicz

Foto: Torge Sulkiewicz
 Claudia Breidbach fehlt die linke Hand. Trotzdem betreibt sie Fallschirmspringen als Leistungssport. Foto: Ruppenthal

Claudia Breidbach fehlt die linke Hand. Trotzdem betreibt sie Fallschirmspringen als Leistungssport. Foto: Ruppenthal

Foto: Ruppenthal

3000 Meter über Wallerfangen schließt Claudia Breidbach die Augen. Während die 600-PS-Turbine der Cessna sie laut dröhnend in den saarländischen Himmel steigen lässt, geht die 44-Jährige in Gedanken die kommenden Minuten durch. "Kommen wir gut aus der Maschine? Wie muss ich greifen für die nächste Figur? Bloß nicht abrutschen mit der Prothese!" Breidbach betreibt Fallschirmspringen als Leistungssport im Team. Für viele unvorstellbar, denn ihr fehlt von Geburt an der linke Unterarm. Vor sechs Jahren sagte man ihr noch: "Fallschirmspringen? Dafür braucht man zwei Hände. Das geht nicht!" Heute will sie bei den Deutschen Meisterschaften in Düren-Wallerfangen beweisen, dass sie sich von ihrer Behinderung nicht aufhalten lässt.

Die Cessna steigt auf 3200 Meter. Im Heck des Flugzeugs leuchtet eine rote Lampe auf. Noch zwei Minuten bis zum Sprung. Breidbachs Teamkollegen setzen sich langsam auf die Knie. Fünf Springer umfasst das Freifall-Formationsteam Karma , die bisher einzige inklusive Mannschaft, die mit einer Handicap-Sportlerin bei Sprung-Wettbewerben antritt. Teamchef Michael Sigl, die Springer Sergey Tatulicz und Michael Mackowiak sowie Kameramann Torge Sulkiewicz überprüfen zum letzten Mal ihre über 6000 Euro teure Sprungausrüstung. An die schwindelerregende Höhe, den freien Fall mit 200 Stundenkilometern denkt jetzt niemand im Team. Trotzdem ist die Lage angespannt. Am Vortag liefen zwei Sprünge nicht gut. Team Karma ist mit seiner Leistung nicht zufrieden. Jetzt springt das Licht im Heck der Cessna auf grün. Die Tür des Flugzeugs wird geöffnet. Brüllend strömt Wind in den Laderaum. Nun muss das Team zeigen, ob sich die Wochen des Trainings ausgezahlen.

Fünf Stunden zuvor am Morgen liegt eine dicke Nebeldecke über dem Flugplatz Wallerfangen-Düren. Der Wettbewerb kann nicht starten. Überall auf dem Gelände lümmeln Fallschirmspringer herum. Liegen schlafend auf gepackten Schirmen, reden bei einem Kaffee über das miese Wetter oder machen Gymnastik. Team Karma bewegt sich in einem skurrilen Tanz über den Hallenboden eines Hangars. Trockenübungen für den nächsten Formationssprung. Sigl, Tatulicz, Mackowiak und Breidbach nähern sich einander und greifen nach Haltegriffen an den Oberarmen ihrer Polyester-Overalls. Mit einer Drehung gehen sie in die Hocke und greifen nach den Beinen des Partners. Dann trennen sie sich wieder, drehen sich um die eigene Achse. Kameramann Torge Sulkiewicz sitzt zurückgelehnt in einem Stuhl und ruft Kommandos: "F 21, gut, jetzt O 6", die Kombinationen von Flugfiguren, die das Team heute vorführen muss.

Claudia Breidbach kann im Training und im Flug nur mit einer Hand zugreifen. An ihrem linken Oberarm trägt sie während eine starre Prothese. "Eine Spezialanfertigung von meinem Techniker" nennt sie den groben Unterarm-Ersatz aus alten Ersatzteilen und Gipsbinden. Auch wenn die Prothese auf den ersten Blick wenig vertrauenerweckend wirkt, für Breidbach ist sie der Schlüssel zur Welt des Fallschirmspringens. Nur durch das Hilfsmittel kann sie die Steuerleinen ihres Schirms bedienen.

Sieben Jahre liegt der erste Tandem-Sprung der 44-Jährigen zurück. "Damals hatte ich Todesangst", sagt Breidbach schmunzelnd, "doch nach dem Sprung, nach Adrenalinrausch und dem folgenden Dauergrinsen wusste ich, das will ich auch!" Ihr Traum wurde zum Kampf. Wegen ihrer fehlenden linken Hand traute ihr niemand das Springen zu. Doch die resolute Frau gab nicht auf und fand 2009 einen Sprung-Trainer, der sie unterstützte. "Ich habe mich voll reingehängt und in kürzester Zeit die Ausbildung geschafft", sagt Breidbach stolz. Bis heute ist sie mehr als 600 Mal gesprungen.

Doch Breitbach wollte mehr. Sie machte sich auf die Suche nach einem Formationssprungteam. In der Fallschirmszene traf sie dabei auch auf Widerstand. "Es gibt zwar viele, die sagen: ‚Toll, dass du das mit dem Springen so hinbekommst!', aber wenn es um Wettbewerbe und um Punkte geht, haben viele Vorbehalte", erzählt die Springerin. Schließlich kann Breidbach im freien Fall ihre Teampartner mit der Prothese nicht festhalten oder zu sich ziehen, wenn sich die Formation im Flug aufzulösen droht. Böse Zungen in der Szene verpassten ihr den Schmähnamen "Griffniete". 2013 fand sie dennoch ihren Platz in einem Team. Das erste inklusive Team der Welt, Team Karma , war geboren. In diesem Jahr wurden sie Mitteldeutscher Meister im Formationssprung.

"Achtung, das ist ein 15-Minuten-Aufruf, Load 1!" Eine Lautsprecherdurchsage bringt am frühen Nachmittag Unruhe auf das Flugfeld. Der Nebel hat sich verzogen, gleich geht es los. Auch Team Karma steht in den Startlöchern. Die Cessna bringt sie in den Himmel. Dort springt gegen zwei Uhr die Lampe auf grün. Das Team geht zur Absetzluke. Michael Mackowiak und Sergey Tatulicz hängen sich außen an die Maschine, während ihnen Breidbach und Michael Sigl von innen die Hände beziehungsweise Prothese reichen. Der kalte Wind zerrt an den Springern. Mit einem Wackeln des Beins gibt Breidbach das Signal. "Ready, set, go" ruft Sigl. Dann der Sprung ins Nichts. Sofort gehen die Springer in Formation. Sie haben 35 Sekunden im freien Fall, um immer wieder in verschiedene Figuren zu wechseln. Für jede vollendete Figur gibt es Punkte. Die Springer fassen sich an Händen und Prothese, lösen sich voneinander, drehen sich um 180 Grad und schaffen Punkt für Punkt. Nach neun Punkten ist die Zeit abgelaufen. Team Karma zieht die Reißleine. Mit einem Ruck öffnen sich die Fallschirme. Die Springer gleiten zufrieden dem Boden entgegen.

Claudia Breidbach landet mit einem breiten Grinsen im Gesicht. "Das ist das Beste, was man angezogen machen kann", sagt sie, während sie ihren Fallschirm zum Packen für den nächsten Sprung bringt. Am Ende zahlt sich das Training aus. Heute, am letzten Tag des Wettbewerbs in Düren, steht fest: Team Karma darf sich über einen dritten Platz in der Kategorie "4-Way Novice" bei den Deutschen Meisterschaften freuen.

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