Mit einer kleinen Tasche in ein neues Leben

Riegelsberg · Eine friedliche Revolution läutet 1989 das Ende der deutschen Teilung ein. In einer Serie stellen wir in loser Folge Ereignisse auf dem Weg zum Mauerfall vor. Heute Teil 6: eine Flucht aus Leipzig über Prag ins Saarland.

 Ein Stück alte Heimat: Mirko Ungelenk in seinem Haus in Riegelsberg mit der Motorhaube seines letzten Trabbis. Fotos: Rich Serra; ZB/CTK/dpa

Ein Stück alte Heimat: Mirko Ungelenk in seinem Haus in Riegelsberg mit der Motorhaube seines letzten Trabbis. Fotos: Rich Serra; ZB/CTK/dpa

Endlich in Freiheit. Mirko Ungelenk weint - "Rotz und Wasser". Doch nicht vor Freude. "Hier bin ich nichts", sagt er zu seiner Frau. Sie stehen auf der Berliner Promenade in Saarbrücken, der Blick schweift über den Fluss. Doch die Gedanken sind woanders. Mit nicht mehr als einer kleinen Reisetasche und 80 D-Mark versteckt im Einband eines alten Autoatlas sind sie aus der DDR geflohen. Gehörten zu den 4000 Menschen in der Prager Botschaft, die am 30. September 1989 Hans-Dietrich Genschers Ankündigung ihrer Ausreise in ohrenbetäubendem Jubel erstickten. Sie haben Geschichte geschrieben. Doch in diesem Moment an der Saar stürzt auf Mirko Ungelenk die volle Erkenntnis ein, was er für seinen Traum von Freiheit aufgegeben hat: seine Familie, seine Arbeit, seine Heimat. Ungewissheit und Angst plagen ihn. Dazu kommt Frust, als nur wenige Wochen später - nach dem Fall der Mauer - Freunde von ihm mit dem 3,5-Tonner nach Saarbrücken ziehen, alles mitbringen, was ihnen lieb und teuer ist. "Natürlich war ich neidisch", gesteht Ungelenk heute. Doch wenn der 52-Jährige zurückblickt, ist er vor allem stolz, dass er sich aus dem Nichts ein erfülltes Leben aufgebaut hat. Die Flucht hat er nicht bereut.

Die Geschichte dieser Flucht beginnt im August 1989. Ungelenk lebt mit seiner Frau Sigrid und dem zweijährigen Sohn Michael in Leipzig . Er führt ein Restaurant mit Diskothek. Der Betrieb wirft gut Geld ab. Nicht nur hat die Familie Ungelenk einen Trabbi, sie hat auch einen modernen Videorekorder. Vom Regime bleibt sie weitgehend unbehelligt. "Wenn man sich arrangierte, konnte man ein gutes Leben führen", erinnert sich der Familienvater. "Für die kleinen Leute interessierte sich die Stasi ja nicht so." Doch der junge Mann will mehr. Er will nicht eingesperrt leben, gehemmt von Grenzen und Einschränkungen.

In Leipzig erlebt er die ersten Montagsdemonstrationen mit. Hört, wie der Pfarrer beim Friedensgebet in der Nikolaikirche plötzlich sagt: "Tragt mein Wort auf den Platz vor der Kirche." Und dann: "Tragt mein Wort in die Straßen." Ungelenk spürt, wie die Stimmung in der Stadt sich dreht. Als er im Fernsehen einen Bericht über die Flüchtlinge in der bundesdeutschen Botschaft in Prag sieht, steht sein Entschluss. Er will es auch wagen. "Wir haben die Wohnung so hinterlassen, dass niemand merkt, dass wir nicht wiederkommen", sagt er. Im Gepäck nur eine Reisetasche und die nötigsten Papiere. An der Grenze will er angeben, einen Kurzurlaub zu machen. Nur seine Mutter ist eingeweiht, sie ist die einzige, der er zu 100 Prozent vertraut. "Wir haben uns verabschiedet, als würden wir uns nie wiedersehen", erzählt Ungelenk mit Tränen in den Augen. Am Tag nach der Montagsdemo am 25. September bricht die Familie in die Tschechoslowakei auf.

Die Fahrt wird zur Nervenprobe: misstrauische Polizisten am Grenzübergang Bad Schandau , bange Blicke in den Rückspiegel. Mehrfach fährt Ungelenk rechts ran, um ein verdächtiges Auto vorbeifahren zu lassen. In Prag angekommen, lässt die Familie ihren hellblauen Trabbi wie hunderte andere einfach an der Straße stehen. "Die Innenstadt war voll von DDR-Autos", erinnert sich Mirko Ungelenk. Den Weg zur deutschen Botschaft kennt er nicht. Also steigt er mit Frau und Sohn in ein Taxi, der Fahrer will sie für 1000 DDR-Mark hinbringen. Kurz vor der Ankunft die Schrecksekunde. "Wie in einem Film: Es ist Nacht, es regnet, wir biegen in die kopfsteingepflasterte Straße zur Botschaft ein. Da halten uns zwei Polizisten an", erzählt Ungelenk. "Ich dachte nur, das war's. Doch der Taxifahrer holt das Bündel mit unserem Geld heraus, zählt die Hälfte der Scheine ab und gibt sie den Polizisten . Die winken uns dann durch."

Fünf Nächte verbringt Mirko Ungelenk mit seiner Familie in der Botschaft. Frauen und Kinder dürfen im Gebäude schlafen. Die Männer rollen sich draußen mit Wolldecken zusammen, mit etwas Glück in einem Zelt. Die Bundeswehr verteilt in Feldküchen Eintopf. Toiletten gibt es nur drei Stück. "Man war den ganzen Tag mit Anstehen beschäftigt: entweder am Klo oder um etwas zu essen", sagt Mirko Ungelenk. Doch die Menschen haben eine Hoffnung: den 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober. "Wir wussten, dass Honecker nicht mit einer vollen Botschaft feiern will."

Am Abend des 30. September wird es unruhig unter den Menschen. Dann tritt ein Mann auf den Balkon des Botschaftsgebäudes und beginnt zu sprechen. "Wir konnten nicht sehen, wer es ist, es war zu dunkel", sagt Mirko Ungelenk. Dass es Bundesaußenminister Genscher ist, erfährt er erst später. Doch der Mann im schwachen Licht einer Stehlampe sagt die erlösenden Worte: "Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise . . . " Weiter kommt er nicht, Jubel bricht aus.

Rückblickend sagt Mirko Ungelenk über die Zeit in der Botschaft: "Es ist paradox. Aber dort habe ich zum ersten Mal echten Sozialismus erlebt. Alle waren gleich, alle haben sich gegenseitig geholfen. Honi wäre stolz auf uns gewesen." Einen Tag nach Genschers Rede beginnt die Reise in die Bundesrepublik. Als der Zug bei Hof die Grenze passiert hat, "ist das Gefühl unbeschreiblich. Die Bäume waren grüner, der Himmel blauer." Die Familie kommt zunächst bei Verwandten in Rheinland-Pfalz unter. Doch Mirko Ungelenk zieht es nach Saarbrücken. Dort lebt ein Freund, dort will er sich Arbeit suchen. Seine erste Anstellung findet er im Restaurant "Stiefel", später bei einer Versicherungsagentur in Neunkirchen, die sich in Ost-Deutschland etablieren will. Noch heute ist er dort. "Ich war nie arbeitslos", sagt der 52-Jährige. Aber so manchen Kulturschock hat das neue Leben in petto. "Als ich einmal nach der Arbeit heimgefahren bin, stand eine junge Frau am Straßenrand. Ich dachte, sie hätte den Bus verpasst und habe ihr angeboten, sie mitzunehmen. Dafür wollte sie 50 Mark", erzählt Ungelenk lachend. "Es war der Straßenstrich." Ebenso perplex macht ihn, "dass die Wessis 12,50 Mark für einen Salat aus Hundeblumen zahlen". Hundeblumen - das ist Löwenzahn. "Bei uns war das Unkraut. Ich hab zu meiner Frau gesagt, die spinnen doch."

Aber nach und nach, sagt Ungelenk lächelnd, sei er auch "ein Wessi geworden". Er fährt nicht mehr "nach Hause", wenn er Leipzig besucht. Das Saarland ist sein Zuhause. Mit seiner zweiten Frau hat er ein Haus in Riegelsberg . Ein Enkelkind ist auch schon da. Nur am hiesigen Dialekt hat er sich nie versucht. Denn ebenso stolz wie auf das, was er sich hier aufgebaut hat, ist er auf seine Herkunft. "Die darf man ruhig hören."

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