Frau Pechstein schreibt Rechtsgeschichte

München · Es ist ihr sechster Prozess, und erstmals hat Claudia Pechstein im Kampf gegen den Weltverband ISU einen Sieg gelandet. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts München wird von immenser Wirkung für die gesamte Sportgerichtsbarkeit sein.

Als der Richter ihren Sieg verkündete und den Weg für ein sportrechtliches Beben freimachte, blieb Claudia Pechstein zunächst ganz cool. Erst als sie von sieben Kamerateams und etlichen Fotografen umringt war, wurden die Augen der Eisschnellläuferin im Sitzungssaal E.06 des Münchner Justizpalastes dann doch wässrig. Nach knapp sechs Jahren hat die Berlinerin erstmals recht bekommen und darf wegen der 2009 verhängten Dopingsperre auf Schadenersatz hoffen. Das Münchner Oberlandesgericht (OLG) nahm gestern die Klage gegen den Eislauf-Weltverband ISU an. Der Fall hat sporthistorische Dimensionen, er greift die Unantastbarkeit des Sportgerichtshof CAS vehement an. Das ist ein bislang einmaliger Vorgang. "Das ist ein großer Tag für mich", sagte die fünfmalige Olympiasiegerin und fand: "Dieser Sieg ist mehr wert als alle meine Olympia-Medaillen zusammen." Das OLG erklärte die 2009 getroffene Schiedsvereinbarung Pechsteins mit der ISU für unwirksam und erkennt die vom CAS einst bestätigte Dopingsperre nicht an. Die ISU will in Revision gehen - der Fall wird im Herbst am Bundesgerichtshof verhandelt. "Wir halten das Urteil für falsch", sagte ISU-Anwalt Christian Keidel.

Die Causa Pechstein dürfte schwerwiegende Folgen für die gesamte Sportgerichtsbarkeit haben. Der Vorsitzende OLG-Richter Rainer Zwirlein wies darauf hin, dass die Neutralität des CAS grundlegend fraglich sei, weil Verbände gegenüber Sportlern bei der Bestellung von Richtern bevorzugt werden. Außerdem widerspreche die Praxis, dass sich Athleten nur vor dem CAS wehren könnten, dem Kartellrecht . Sollte auch der BGH Pechstein recht geben, würden Sportler künftig ein Wahlrecht zwischen Sportgerichtsbarkeit und ordentlichen Gerichten haben. "Endlich wird die Überbedeutung des Sportgerichtshofes CAS und die Verdrängung staatlichen Rechts ausgehebelt", erläuterte Sportrechtler Michael Lehner. "Wir haben einen Sieg errungen, der Sportrechtsgeschicht schreibt", fand Pechsteins Anwalt Thomas Summerer. "Der CAS muss jetzt grundlegend reformiert werden."

Das Sportgericht in Lausanne war am 25. November 2009 einem ISU-Urteil gefolgt und hatte die Zwei-Jahres-Sperre Pechsteins wegen schwankender Retikulozyten-Blutwerte ohne Doping-Beweis bestätigt. Pechstein hat Doping stets bestritten und führt eine geerbte Blutanomalie als Grund für ihre erhöhten Werte an. In dem Münchner Schadenersatzprozess hat die Berlinerin die ISU daher für erlittenes Unrecht auf 4,4 Millionen Euro verklagt. Das OLG kippte die Entscheidung des Landgerichts München I, dass der Spruch des CAS anerkannt werden müsse. Die deutschen Gerichte seien in der Schadenersatzfrage nicht an das CAS-Urteil gebunden, hieß es. "Die ISU-Betrüger haben mir alles genommen. Aber es ist nicht zu Ende. Mich freut es, dass die ISU jetzt Beweise auf den Tisch legen muss", meinte Pechstein. Sollte der BGH entscheiden, dass der Fall vor einem ordentlichen Gericht verhandelt werden muss, ist im Gegensatz zur Sportgerichtsbarkeit nicht die Athletin gefordert, sich zu verteidigen, sondern der Verband in der Pflicht, hinreichende Beweise für Doping zu liefern.

Meinung:

Das Ende der Unfehlbarkeit

Von SZ-RedaktionsmitgliedJanek Böffel

Bis gestern gab es zwei Institutionen, die von sich behaupten konnten, unfehlbar zu sein: der Papst und der Internationale Sportgerichtshof CAS . Kein irdisches Gericht konnte die Urteile der obersten Sport-Richter ins Wanken bringen. Und doch hat das Münchner Oberlandesgericht genau das getan. Es ist eine Entscheidung, die endgültig deutlich macht, dass der Sport eben doch kein in sich geschlossenes Paralleluniversum ist, das sich über weltliche Gesetze hinwegsetzen kann. Die Allmacht der Verbände über die Sportler hat Grenzen. Dessen muss sich der Sport wieder bewusst werden. Auch wenn die dazu notwendigen Reformen Gefahren bergen. Was, wenn gefoulte Profis künftig vor einem ordentlichen Gericht Schadenersatz verlangen? Was, wenn Mannschaften Einspruch gegen ihren Abstieg einlegen und den Protest durch alle Instanzen prügeln? Das bisherige System war nicht immer gerecht, aber es hat den Betrieb am Laufen gehalten.

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