Totenstille

Fernsehkameras gibt es hier auf dem offenen Meer nicht. Auch keine Mikrofone, kein Blitzlicht. Nur eine große erschütternde Stille. Totenstille. Die See ist ruhig, hier, etwa 70 Seemeilen vor der libyschen Küste.

Außer ein paar Öl-Schlieren von den Rettungsbooten ist am Tag nach der Tragödie nichts mehr zu sehen.

So hat es Vincenzo Bonomo einem italienischen Reporter erzählt. Bonomo, das heißt so viel wie guter Mann. Und wenn man so will, ist es gut, dass der Kapitän des sizilianischen Fischkutters "Francesco Padre" das Grauen mit eigenen Augen gesehen hat. Er hat Holzstücke im Wasser gesehen, Schwimmwesten, Schuhe, ein Heft und einen Rucksack. Und dann hat er noch den leblosen Jungen gesehen, vielleicht zehn Jahre alt, dessen Gesicht hinunter auf den Meeresgrund gerichtet war. Er wolle gar keinen Überlebenden mehr finden, das sei ohnehin aussichtslos, berichtet Bonomo erschüttert. Nur einen einzigen Körper und diesem eine würdige Bestattung möglich machen. "Dann könnte ich vielleicht ein bisschen besser schlafen."

Wir schlafen alle ziemlich gut. Wir schlagen am Morgen die Zeitung auf oder schalten den Fernseher ein und dann beginnt dieses seltsame Spiel mit den Zahlen. Vor allem Journalisten geht es so: Drei Tote im Mittelmeer , vielleicht eine Meldung? 70 Tote, ein kleineres Stück. Ab 300 handelt es sich um eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes. Aber selbst, wenn wie im Oktober vor zwei Jahren 366 Menschen vor der Insel Lampedusa ertrinken, der Papst die "Globalisierung der Gleichgültigkeit" anprangert, Europa dann ein paar Tage irritiert ist und verspricht, jetzt wirklich aktiv zu werden, geht alles doch bald wieder seinen gewohnten Weg.

Am Wochenende hieß es erst, 700 Menschen seien bei einem Schiffsunglück vor der Küste Libyens ertrunken. Dann behauptete einer der 28 Überlebenden es seien 950 Menschen auf dem Boot gewesen. 200 Frauen, bis zu 50 Kinder. Ein neuer trauriger Superlativ. Die Internationale Organisation für Migration meldet gestern drei weitere Flüchtlingsboote in Seenot. Das Massensterben vor unserer Haustüre ist alltäglich geworden. "Im Mittelmeer geschieht ein Völkermord", hat Joseph Muscat, der Premierminister von Malta, in diesen Tagen gesagt. "Und wir alle sind in Gefahr, uns an ihn zu gewöhnen."

Wir sind persönlich nicht verantwortlich dafür, dass Armut und Krieg in Afrika und im Nahen Osten herrschen. Auch nicht dafür, dass Schlepper Hunderte von Menschen auf klapprige Fischkutter pferchen und sie dafür auch noch bezahlen lassen. Dass im vergangenen Jahr 170 000 Menschen auf diese Weise über das Mittelmeer nach Italien und damit in die EU kamen und 3500 von ihnen starben. Dieses Jahr sind es schon 1600 Tote. Die Frage ist aber, wie sehr wir und die von uns gewählten Regierungen durch unsere Passivität zu Komplizen des Massensterbens geworden sind. Wir fürchten uns vor der unkontrollierten Einwanderung und schaffen es trotzdem nicht, sie zu kontrollieren. Die Hürden, die wir gegen die Flüchtlinge errichten, sind so hoch, dass auch die Risiken zu ihrer Überwindung größer werden.

Die tragischen Folgen der Flucht über das Mittelmeer sind spätestens seit 20 Jahren bekannt. Über 20 000 Menschen sind nach Schätzungen in diesen Jahren ertrunken. 283 Flüchtlinge starben 1996 beim ersten größeren Unglück vor Sizilien - der Tragödie von Portopalo. Wenig später fanden Fischer die Leichname der Ertrunkenen in ihren Netzen. "Außer dem Fisch hatten wir plötzlich eine Leiche im Netz", erzählte einer der Fischer. "Der Körper eines dunkelhäutigen Mannes zwischen 25 und 30 Jahren, seine Haut von den Fischen angenagt, am Finger trug er einen Ring." Die Fischer warfen den Leichnam zurück ins Meer, aus Furcht vor Problemen mit den Behörden. Sechs Wochen lang fanden sie Leichen in ihren Netzen, und warfen sie wieder zurück.

Heute liegt ein junger, dunkelhäutiger Mann im Krankenhaus von Catania auf Sizilien. Er war am Sonntag gerettet worden, wegen einer Kopfverletzung mit dem Helikopter in das Krankenhaus geflogen worden. Der namenlose junge Mann, angeblich aus Bangladesch, berichtete davon, dass sich 950 Menschen auf dem untergegangenen Boot befunden hätten. Eng aneinander gepresst an Deck des Kutters und eingeschlossen in den Bauch des Schiffes. Als sich der zur Hilfe gerufene portugiesische Frachter "King Jacob" näherte, sei der Kutter gekippt. Die meisten der Körper liegen nun in 400 Meter Tiefe. Eine Bergung wäre höchst aufwändig und nur mit Tauchrobotern möglich. Das erzählen die Mitglieder von Küstenwache und Marine, die am Einsatz beteiligt waren.

Der sizilianische Fischer Vito Margiotta war beim jüngsten Rettungsversuch dabei. Er war einer der ersten an der Unglücksstelle, wie er der Zeitung "La Repubblica" berichtete. "Ein Inferno, überall Teile. Wir fuhren sehr vorsichtig, um niemanden zu gefährden." Leider seien alle Körper, die er im Meer erspäht habe, schon leblos gewesen. Die Gesichter nach unten gekehrt, die Körper bereits vom Wasser aufgebläht. "Uns sind die Tränen gekommen", erzählt Margiotta. "Wir haben an diejenigen gedacht, die unten auf dem Grund liegen und für die alle Hilfe zu spät kam. Die Körper werden nie geborgen werden können."

Was bleibt, sind die 24 Leichensäcke aus Plastik, die an Deck des Patrouillenschiffs "Bruno Gregoretti" der italienischen Küstenwache lagern. Männer in weißen Overalls, mit Atemschutzmasken und Schutzbrillen ausgestattet, tragen sie am Hafen von La Valetta auf Bahren von Bord. Zwei Matrosen mit Schirmmütze salutieren. Es ist der unwirkliche Epilog des jüngsten Dramas.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort