Jeder gegen jeden in Syrien

Damaskus · Die Russen greifen aus der Luft an, ebenso die Amerikaner. Die Lage in Syrien wird immer verworrener. Schon mehren sich Spekulationen um eine weitere Offensive. Wie geht es weiter in dem Bürgerkriegsland?

Im Syrien-Konflikt steht offenbar eine neue Eskalation bevor. Laut Medienberichten bereiten sowohl die USA als auch die von russischen Kampfflugzeugen unterstützte syrische Regierung neue Offensiven in dem Bürgerkriegsland vor. Die Kämpfe könnten mehr als eine Million weiterer Flüchtlinge in die benachbarte Türkei treiben. Dies wiederum dürfte die Wanderungsbewegung Richtung Europa verstärken.

Die USA wollen nach einem Bericht der "New York Times" ihre Luftangriffe auf die Stadt Rakka im Norden Syriens ausweiten, das Hauptquartier der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) und der Sitz ihres "Kalifats". Von Luftwaffenstützpunkten in der Türkei aus sollen die Kampfjets der USA und ihrer Verbündeten demnach den Druck auf den IS erhöhen, während bis zu 20 000 Kurdenkämpfer und 5000 arabische Rebellen auf Rakka vorrücken.

Dem Zeitungsbericht zufolge wollen die USA zudem syrische Rebellen ab sofort direkt mit Munition und möglicherweise auch mit Waffen versorgen. Einige der vom Westen unterstützten Rebellenverbände in Syrien fordern die Lieferung von Luftabwehrraketen, um sich gegen russische Luftangriffe wehren zu können. Welche Gruppen in Syrien von den USA aufgerüstet werden sollen, ist unklar.

Insbesondere die Rolle der kurdischen Kämpfer in Syrien verstärkt in Ankara die Sorge, die syrische Kurdenpartei PYD könnte in Nord-Syrien versuchen, einen eigenen Kurdenstaat zu gründen. Westliche Waffenhilfe für die PYD, die bei den USA als verlässlicher und durchsetzungsfähiger Partner im Kampf gegen den Islamischen Staat gilt, wird von der Türkei deshalb scharf kritisiert. Bei seinem Besuch in Brüssel am Montag betonte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan , die mit der türkisch-kurdischen Rebellengruppe PKK verbündete PYD sei eine Terrororganisation wie der IS.

Auch im Westen Syriens laufen Vorbereitungen für eine Bodenoffensive syrischer Soldaten, libanesischer Hisbollah-Kämpfer und iranischer Revolutionsgardisten nördlich der Stadt Homs. Auch russische Truppen könnten laut Medienberichten bald in Syrien eingreifen. In der Gegend nördlich von Homs hatten russische Kampfflugzeuge in den vergangenen Tagen die Stellungen von Rebellen angegriffen. Zweimal gerieten russische Jets dabei in den türkischen Luftraum; Moskau sprach von einem Versehen, doch die USA und die Nato meldeten Zweifel an dieser Darstellung an.

Erdogan nannte das russische Verhalten nicht hinnehmbar und sagte, Moskau werde "viel verlieren", wenn es die Türkei als Freund verlieren sollte. Allerdings hat die Türkei, die im großen Maße von russischen Erdgaslieferungen abhängig ist, kaum Möglichkeiten, auf die Regierung in Moskau einzuwirken. Auch deshalb beschwor Erdogan die Solidarität in der Nato : Ein Angriff auf die Türkei sei ein Angriff auf das ganze Bündnis. Neben einer Eskalation der militärischen Situation beim Nachbarn Syrien erwartet die Türkei auch eine Verschlimmerung der humanitären Lage. Sollten die russischen Luftangriffe das militärische Gleichgewicht im dicht besiedelten Westen Syriens verändern und der syrischen Regierung zur Rückeroberungen verlorener Gebiete verhelfen, könnten mehr als eine Million zusätzlicher Flüchtlinge in die Türkei kommen, sagte Vizepremier Numan Kurtulmus.

Besonders aufmerksam beobachtet Ankara die Lage in der ehemaligen syrischen Wirtschaftsmetropole Aleppo nahe der türkischen Grenze. In der Gegend um Aleppo kämpfen Regierungstruppen, der IS und andere Rebellenverbände gegeneinander. Sollte die Stadt an den IS fallen, könnten innerhalb kurzer Zeit mehrere hunderttausend Menschen in die Türkei fliehen.

Meinung:

Machtspiele ohne Mitleid

Von SZ-Redakteur Pascal Becher

Syrien versinkt im Chaos - und das auf unbestimmte Zeit. Wie sollte dieser ausgeuferte Bürgerkrieg gelöst werden - bei einer solch diffusen Gemengelage an unvereinbaren Eigeninteressen? Über ein Dutzend Konfliktparteien kämpfen um die Herrschaft im Staat, um regionale und globale Geltungsansprüche oder die weltweite Hoheit im Islam. Wie vertrackt die Lage ist, zeigt das Beispiel Baschar al-Assad. Russland will ihn als Präsidenten halten, der Westen bekämpft ihn, genauso wie die syrischen Rebellen-Gruppen. Die können teilweise nicht miteinander - und den USA. Diesen wiederum geht es um ihren globalen Kampf gegen Islamisten. Und die Türken jagen in Syrien die Kurden. Der IS will alle aus dem "Kalifat" raushaben und die Al-Nusra-Front den IS. Doch eines scheint immer klarer zu werden: Am Schicksal der Syrer ist keiner interessiert.

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