Deutsche sind keine Angsthasen

Berlin · Ukraine-Krise und Ebola-Epidemie bereiten den Menschen in Deutschland offenbar noch keine schlaflosen Nächte: Ihre Ängste drehen sich ums Geld.

Bilder von rollenden Panzern in der Ukraine , blutigen Kämpfen in Syrien und Ebola-Kranken in Westafrika beherrschen die Nachrichten. Doch auf die konkreten Ängste der Deutschen haben sie offenbar wenig Einfluss: Die Menschen hierzulande geben sich insgesamt entspannt wie seit 20 Jahren nicht mehr. "Die Deutschen sind in einem Stimmungshoch", sagt Rita Jakli von der R+V-Versicherung, die seit 23 Jahren mehr als 2400 Bundesbürger zu ihren Ängsten befragt - und nun in fast jedem Bereich einen Rückgang der Sorgen beobachtet.

Das Vertrauen in die Wirtschaftskraft Deutschlands ist wieder gewachsen, die Angst vor Arbeitslosigkeit gesunken. Doch trotzdem ist da etwas, das mehr als die Hälfte der Menschen weiterhin umtreibt. Nämlich die Sorge, dass angesichts steigender Lebenshaltungskosten nicht genug im Portemonnaie bleibt, und die große Furcht vor dem, was kommt, wenn Alter, Krankheit und Pflegebedürftigkeit nahen.

Sind diese Sorgen im Vergleich zu anderen europäischen Staaten angebracht und realistisch? Passende Studien aus anderen Ländern fehlen. Ziehe man jedoch den Euro-Social-Survey heran, sei deutlich, dass in Deutschland die Sorge ums Geld besonders ausgeprägt sei, und man im Streben nach sozialer Sicherheit auf Augenhöhe mit skandinavischen Ländern, den Niederlanden, Belgien und Frankreich stehe, sagt der Politologe Manfred Schmidt (Universität Heidelberg. Vor allem ersteres sei wohl auch historisch bedingt - Erfahrungen der Hyperinflation in der Weimarer Republik und der Währungsreform 1948 säßen tief.

Dennoch: "Die Deutschen sind kein Volk von Angsthasen, sondern reagieren mit berechtigter Sorge auf aktuelle Ereignisse und Probleme", betont Schmidt. "Die meisten Ängste sind wirklichkeitsnahe Reaktionen auf die Top-Themen der Politik und der öffentlichen Debatte." So seien im vergangenen Jahrzehnt nicht nur die Preise für Strom, Kraftstoffe oder Nahrungsmittel um bis zu 70 Prozent gestiegen, sondern dem Einzelnen bleibe auch durch höhere Steuern, Abgaben und Umlagen für Umweltschutz weniger Bares. Hinzu kommt die Angst vor schwerer Krankheit und Pflegebedürftigkeit - und die ist vor allem weiblich. "Frauen haben wegen ihrer höheren Lebenserwartung auch ein viel höheres Pflegerisiko. Außerdem tragen sie bei der Pflege in der Regel die Hauptlast und wissen deshalb, wie nervenaufreibend und kostspielig die Situation ist", sagt Rita Jakli.

Die Deutsche Stiftung Patientenschutz wertet das als Zeichen für mangelndes Vertrauen in die neue Pflegereform. "Es ist eine Katastrophe, dass die Angst der Menschen vor Pflegebedürftigkeit genauso groß ist wie vor Naturgewalten", sagt Stiftungsvorstand Eugen Brysch.

Real begründet ist auch das erneute Auseinanderdriften im Lebensgefühl zwischen Ost und West: Die Angst vor Jobverlust ist im Osten Deutschlands deutlich höher. "Ein Blick in die Arbeitslosenstatistik vom Juli zeigt, dass diese Angst begründet ist", sagt Jakli. Während im Osten fast jeder Zehnte arbeitslos war, lag die Quote im Westen bei nur knapp sechs Prozent.Die diffuse Furcht vor der Zukunft, vor dem, was da kommen mag, hat im Angelsächsischen einen Namen: the "German Angst". Offensichtlich sorgen sich die Deutschen gemeinhin weit mehr als Angehörige anderer Nationen. Der Bundesbürger verfügt für gewöhnlich auch über ein multiples Versicherungsnetz, um allem Unheil gewachsen zu sein. Doch ausgerechnet jetzt, in einem Jahr der besorgniserregendsten Krisen und Kriege seit langem, scheinen die Deutschen so entspannt wie selten zuvor. Tickt der Deutsche anachronistisch? Vor Anschlägen und Terror haben die Bundesbürger weniger Befürchtungen als ums liebe Geld . Dabei geht es uns wirtschaftlich so gut wie lange nicht. Angst ist ein schlechter Ratgeber, sagt man. Durchaus. Aber auch Sorglosigkeit angesichts tatsächlicher Bedrohungen, die schon vor unserer Haustür lauern, kann gefährlich sein. Im westlichen Kokon scheint der Blick gelegentlich getrübt - ein wenig mehr Realismus könnte den Deutschen nicht schaden.

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