Ausspähen unter Freunden geht doch - Lafontaine wurde ebenfalls belauscht

Berlin · Spitzenbeamte, Minister, Kanzlerin – sie alle sollen von den USA ausspioniert worden sein. Eine neue Belastungsprobe für das ohnehin schon arg strapazierte deutsch-amerikanische Verhältnis.

"Ausspähen unter Freunden - das geht gar nicht." Das Wort von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU ) nach Bekanntwerden der Ausspähung ihres Handys durch die Amerikaner ist fast zwei Jahre alt. Nun wird öffentlich, dass die Spionage weit umfassender gewesen sein soll als bisher geahnt. Auch Kabinettsmitglieder wie der frühere Bundesfinanzminister Oskar Lafontaine sollen bereits 1998/1999 abgehört worden sein. Die Empörung ist groß. Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU ) zitiert den US-Botschafter John B. Emerson herbei. Das Misstrauen war groß - nun wächst es weiter.

In großem Stil soll der US-Geheimdienst NSA über Jahre entscheidende und höchste Stellen der Bundesregierung ausgeforscht haben - vielleicht bis heute. Schon zum zurückliegenden G7-Gipfel in Bayern erwähnte Merkel mit Blick auf die Geheimdienstaffäre "Meinungsverschiedenheiten", während US-Präsident Barack Obama die engen Beziehungen betonte. Die deutsche Regierung tut sich seit den ersten Enthüllungen der Spähaffäre schwer damit, den USA und den Umtrieben ihrer Geheimdienste Einhalt zu gebieten. Vor zwei Jahren versuchte der damalige Kanzleramtschef Ronald Pofalla (CDU ), die unangenehme Affäre vorzeitig zu beenden. "Die NSA unternimmt nichts, um deutsche Interessen zu schädigen", gab Pofalla am 12. August 2013 in einem denkwürdigen Auftritt in einem unterirdischen Gang des Bundestags zu Protokoll. Die Spionagevorwürfe seien "vom Tisch". Ein No-Spy-Abkommen mit den USA stellte er damals als greifbar dar. Im NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestags machen die Abgeordneten gestern keinen Hehl aus ihren Zweifeln, dass so ein Abkommen nie wirklich wahrscheinlich war. Die Enthüllungen durch Dokumente des Ex-NSA-Mitarbeiters Edward Snowden hatten damals erst zwei Monate zuvor begonnen - und die Regierung Merkel im Bundestagswahlkampf unter Druck gesetzt. Am 23. Oktober wurde bekannt, dass die NSA jahrelang das Handy der Kanzlerin abgehört hatte. Doch wie systematisch die Spionage bei der deutschen Regierung war, machen erst jetzt Dokumente deutlich, die ein NSA-Mitarbeiter der Enthüllungsplattform Wikileaks gegeben haben soll. Die NSA soll demnach auch weitere Anschlüsse Merkels ausspionieren können - und etwa eine interne Beratung zur Griechenlandkrise belauscht haben. Egal ob im Finanz-, Wirtschafts- oder Agrarministerium - der US-Geheimdienst NSA soll reihenweise die Telefone von Spitzenbeamten, Staatssekretären und Ministern belauscht haben, die für alle möglichen internationalen Verhandlungen zuständig sind. 69 Nummern sollen auf der Spionageliste stehen. Anders als bei den brisanten Geheimlisten mit NSA-Spionagezielen, die der Bundesnachrichtendienst (BND) aussortierte, soll die NSA hier wohl direkt ohne Beihilfe des BND operiert haben. Der Grünen-Abgeordnete im NSA-Ausschuss, Hans-Christian Ströbele, spricht vom "großen Lauschangriff" auf die Regierung. Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD ) versucht es am Morgen noch mit Gelassenheit. "Man bekommt ein ironisches Verhältnis dazu", sagt er. Am Nachmittag zeigt sich, dass bei der Regierung doch eher Alarmstimmung herrscht. Die Einladung des US-Botschafters ins Kanzleramt deutet auf eine Krise hin, wie es hinter vorgehaltener Hand heißt.

"Die USA überwachen die ganze Welt"

Linken-Politiker Oskar Lafontaine über den Spähangriff des NSA: Es geht um Wirtschaftsspionage


Herr Lafontaine, offenbar wurden auch Sie von der NSA abgehört - und zwar als Bundesfinanzminister 1998/99. Was, glauben Sie, war der Grund?

Lafontaine: Die Amerikaner wollten schon damals von den Politikern der Welt nicht nur hören, was sie zu sagen haben und was sie für ihr Land vorschlugen, sondern sie wollten auch das wissen, was hinter verschlossenen Türen gesprochen wurde.

Könnte es bei Ihnen auch damit zusammenhängen, dass Sie als Bundesfinanzminister zusammen mit Staatssekretär Heiner Flassbeck das Weltwährungssystem reformieren wollten?

Lafontaine: Sicher wollten die USA genau darüber informiert sein, was wir vorhatten. Das aber habe ich auf jeder Konferenz gesagt: Nämlich dass wir die Finanzmärkte regulieren und die Banken an die Kette legen wollen. Das habe ich so oft wiederholt, dass es eigentlich keinen Interpretationsspielraum gab. Insofern war es völlig überflüssig, mich zu überwachen.

Interessant ist ja, dass sich unter Ihrer damaligen Telefonnummer heute das Sekretariat von Finanzminister Schäuble meldet. Das wiederum lässt darauf schließen, dass die NSA weniger an Ihrer Person als an der Amtsausführung des Bundesfinanzministers interessiert war - und wohl noch ist.

Lafontaine: Natürlich ging es der NSA nicht in erster Linie um meine Person. Das erklärt ja auch, warum nicht nur ich abgehört wurde, sondern auch die Bundesfinanzminister , die danach kamen. Hintergrund ist, dass Entscheidungen von finanzpolitischer Tragweite die Finanzpolitik aller Industriestaaten beeinflussen können. Und das wollen die Amerikaner durch illegale Abhörmaßnahmen eben kontrollieren. Deshalb überwachen sie die ganze Welt. Sie sind die stärkste Macht der Welt und handeln nach dem Recht des Stärkeren.

Nun haben die USA mit ihren westlichen Verbündeten in jüngerer Zeit wohl kaum schlechte Erfahrungen gemacht. Misstrauen kann eigentlich nicht der Hintergrund sein. Was ist es dann?

Lafontaine: Es geht um Wirtschaftsspionage . Das wird zwar öffentlich bestritten, aber es wird ja öffentlich auch viel gelogen. Wirtschaftsspionage bringt natürlich Vorteile für die eigene Volkswirtschaft.

Wie aber kann sich ein Land gegen Wirtschaftsspionage wehren? Diese ist ja schließlich nicht Amerika-spezifisch.

Lafontaine: Wehren kann man sich dagegen entweder, indem man eben marktwirtschaftlich handelt - nach dem Motto: Wenn die einen Wirtschaftsspionage betreiben, dann müssen es die anderen auch machen. Oder indem man die Technik der neuen Medien so weit entwickelt, dass das Ausspähen, das Einklinken ohne die Zustimmung der betroffenen Personen, nicht mehr möglich ist. Ich würde zweifellos letztere Variante bevorzugen. Wenn jeder jeden ausspioniert, ist kein Vertrauen in der Welt.

Technisch kann man den "Späh-Kreislauf" durchbrechen, aber dadurch gewinnt man ja nicht automatisch Vertrauen zurück ...

Lafontaine: Betrachtet man die Geschichte, ist Vertrauen nicht unbedingt eine Eigenschaft von Staatsmännern und staatlichen Organisationen. Da muss man sich nur an Charles de Gaulle erinnern, der gesagt hat: Staaten haben keine Freunde , sondern Staaten haben Interessen. Heute fehlt ein de Gaulle in Europa, der den Amerikanern sagt, was geht und was nicht geht.

Linksliberaler Jurist Graulich soll in NSA-Affäre aufklären

Seit Kurt Graulich für den Posten des NSA-Sonderermittlers ins Spiel gebracht wurde, ist über den früheren Bundesverwaltungsrichter einiges geschrieben worden. "Ein bisschen wie ein Anarcho" sei der 65-Jährige, befand die "Süddeutsche Zeitung". Graulich sei ein linker SPD-Mann und "etwas kauzig", hieß es in der "Frankfurter Rundschau". Der Zen-Buddhist selbst sagt, er könne mit dem Label "linksliberal" gut leben. Der promovierte Jurist gilt als Experte für Nachrichtendienste. Am Bundesverwaltungsgericht gehörte er bis zu seiner Versetzung in den Ruhestand in diesem Februar dem 6. Senat an. "Am meisten haben mich die Fälle interessiert, die zum Sicherheitsrecht gehören", erklärte Graulich. Dazu zählten das Polizei- und Ordnungsrecht und eben auch das Recht der Nachrichtendienste. dpa

Meinung:
Merkels Blamage

Von SZ-Korrespondent Stefan Vetter

Ronald Pofalla , einst Kanzleramtschef, ist drauf und dran, als abschreckendes Beispiel der Politik in die Geschichte einzugehen. "Die Vorwürfe sind vom Tisch", behauptete der Unionsmann vor zwei Jahren, als erste Erkenntnisse über eine massenhafte Ausspähung durch den US-Geheimdienst NSA die Runde machten. Nach den neuesten, schwer wiegenden Enthüllungen der Internet-Plattform Wikileaks wird immer klarer, dass der Tisch zusammenzubrechen droht, unter den Pofalla damals alles kehren wollte. Aber auch die Aussagen von Angela Merkel wirken vor diesem Hintergrund nur noch wie eine Farce. Von wegen, ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht. Die NSA hat sich so viele Freunde per Lauschangriff vorgeknöpft, dass einem angst und bange werden kann. Die Einbestellung des US-Botschafters ins Kanzleramt war das Mindeste, was die Bundesregierung jetzt tun musste. Doch auf Dauer wird das nicht reichen. Washington ist akut in Erklärungsnot. Und auf eine erschöpfende Erklärung muss Angela Merkel auch bestehen. Es reicht nicht mehr, zu beschwichtigen. Dazu ist der Vertrauensbruch der Amerikaner gegenüber ihrem wichtigsten Verbündeten in Europa zu offensichtlich.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort