Das nationale Trauma der Briten

Thelma Stober ist an diesem Morgen in Gedanken noch in der Olympia-Welt. Die Britin muss sich aber beeilen und rennt die steile Rolltreppe in den U-Bahn-Schacht hinunter, um sich in die übervolle Londoner "Tube" zu drücken.

 Die Ankunft der Attentäter in London am Morgen des 7. Juli 2005 im Bild einer Überwachungskamera. Fotos: dpa

Die Ankunft der Attentäter in London am Morgen des 7. Juli 2005 im Bild einer Überwachungskamera. Fotos: dpa

 Thelma Stober, die bei dem Anschlag ein Bein verlor, an einem Mahnmal im Hyde Park. Es besteht aus 52 Stelen, eine für jedes Todesopfer.

Thelma Stober, die bei dem Anschlag ein Bein verlor, an einem Mahnmal im Hyde Park. Es besteht aus 52 Stelen, eine für jedes Todesopfer.

Stober, die in die Bewerbung für die Sportveranstaltung involviert war, hat am Abend zuvor mit Millionen anderen die Vergabe der Olympischen Spiele 2012 nach London gefeiert. Im Radio diskutieren seitdem die Moderatoren ganz aufgeregt. Auf den Titelseiten der Zeitungen vom 7. Juli 2005 leuchten Bilder des Glücks, der Freude, des Jubels. Um 8.49 aber schlägt die Euphorie in Entsetzen um. Vier Selbstmordattentäter sprengen sich in drei U-Bahn-Zügen und einem Doppeldeckerbus in die Luft und ermorden 52 Menschen.

Der Horror dieses Tages löste ein nationales Trauma auf der Insel aus, das bis heute nicht überwunden ist. Der islamistische Anschlag Ende Juni in Tunesien machte dies deutlich. 30 Briten starben während ihrer Ferien im Kugelhagel. Bei zahlreichen Londonern weckt das kurz vor dem zehnten Jahrestag des Anschlags im eigenen Land Erinnerungen an den Sommer 2005.

Thelma Stober erinnert sich an ein grelles, weißes Licht und an das Gefühl, durch die Luft geworfen zu werden. Sie wurde aus dem Zug auf die Gleise geschleudert, ein Teil der zerfetzten Tür steckte in ihrem Oberschenkel. Menschen schrien in die pechschwarze Dunkelheit, Gliedmaßen lagen herum, Dutzende Überlebende bereiteten sich in jenen endlosen Minuten gedanklich auf den Tod vor - eingeschlossen im Untergrund der britischen Metropole. Viele Meter über ihnen blickten Mitarbeiter des Netzkontrollzentrums entgeistert auf ihre Bildschirme. Stromausfall? An drei Stationen? Überwachungskameras zeichneten Minuten später auf, wie sich Menschen zu Fuß ihren Weg durch die Tunnel bahnten. Die ersten Passagiere strömten aus den Bahnhöfen - verwundet, verwirrt, verstört. "Sie sahen aus, als kämen sie aus einem Kriegsgebiet", beschrieb eine Passantin die Szenerie. Die Evakuierung von etwa 200 000 Menschen aus der mehr als 150 Jahre alten "Tube" lief an. Fast eine Stunde später detonierte eine vierte Bombe in der Innenstadt in einem Doppeldeckerbus und riss elf weitere Menschen in den Tod. Die Weltstadt kam zum Erliegen.

Thelma Stober verlor bei dem Anschlag ein Bein. Später zeigten Rekonstruktionen des Tatorts, dass sie neben dem Attentäter stand - einem aus Pakistan stammenden Muslim, der wie die drei anderen Attentäter einen britischen Pass besaß. Fast ein Jahr nach dem Terrorangriff ging sie wieder zur Arbeit und half dabei, den Traum der Olympischen Spiele zu realisieren. Ein Trauma lässt sie aber nicht los: "Ich nehme noch immer nicht die U-Bahn zur Arbeit."

Ein Untersuchungsbericht sorgte damals für Diskussionen, da er offenbarte, wie Hilfskräfte wegen eines mangelnden Funknetzes Kuriere zur Kommunikation durch das Tunnelnetz schicken mussten. Verbandskästen konnten nicht geöffnet, Notausgänge nicht benutzt werden. Trotzdem, ein Anschlag auf das enge Transportsystem, da sind sich die Behörden einig, ist nur schwer zu vereiteln, auch wenn die Sicherheitsmaßnahmen erhöht wurden. So gibt es heute in den Bahnhöfen der Metropole keine Gepäckschließfächer mehr, auf den Plattformen wurden schwarze Abfallbeutel durch transparente ersetzt und im Regierungsviertel schafften die Behörden die öffentlichen Mülleimer sogar ganz ab. Die Überwachung der Stadt nimmt außerdem zuweilen paranoide Züge an. So kommt auf zehn Briten eine Überwachungskamera. Gegenwehr aus der Bevölkerung brandet kaum auf, viel zu tief sitzt die Panik vor Anschlägen.

Heute wird an zahlreichen Orten mit Veranstaltungen der Opfer gedacht. Im Hyde-Park, wo das zentrale Mahnmal aus 52 Edelstahl-Stelen als Symbol der kollektiven Trauer errichtet wurde, wollen Premierminister David Cameron und Londons Bürgermeister Boris Johnson ihren Willen zum Kampf gegen den Terror betonen. Großbritannien fliegt seit vergangenem Herbst als Teil eines internationalen Militärbündnisses gegen die Terrormiliz IS Luftangriffe im Irak. Es sei "hoch wahrscheinlich", dass islamistische Terroristen das Königreich angreifen, sagte Cameron damals. Die Terrorwarnstufe wurde, auch weil Hunderte dschihadistische Briten nach Syrien und in den Irak gereist sind, bereits im Herbst auf den zweithöchsten Wert gesetzt - "ernst".

Alle Londoner sind heute aufgerufen, eine Station vor ihrem eigentlich Halt auszusteigen und den Weg im Gedenken an die Opfer zu Fuß zu gehen. Wieder dürfte das Zusammengehörigkeitsgefühl aufkommen, das die Geschehnisse 2005 auslösten. In der anonymen Großstadt hielten sich die Menschen an den Händen, lobten die Tapferkeit der Rettungskräfte, die im Bewusstsein, dass jeden Moment die nächste Bombe explodieren kann, in die Röhren abtauchten. Auf die Hilfsbereitschaft der Londoner sei sie bis heute stolz, schrieb eine Kolumnistin einer englischen Zeitung. "Die Menschlichkeit war überwältigend."

Vor dem Memorial im Hyde Park leuchtet eine Pflanze in einem gelben Topf. Sie schmiegt sich an eine der grauen Stelen. Die Sonnenblumen fangen zaghaft an zu blühen.

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