Das Fiasko der Fahnder und seine Fortsetzung

Berlin/Erfurt · Es war sicher ein Zufall, dass der Thüringer Landtag ausgerechnet gestern seine Sondersitzung über die abscheulichen NSU-Verbrechen und das Unvermögen der örtlichen Sicherheitsbehörden abhielt. Denn auf den Tag genau ein Jahr zuvor hatte der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages seinen Abschlussbericht vorgelegt.

Klar wird damit einmal mehr: Der Fall darf noch längst nicht zu den Akten gelegt werden. Womöglich kommt die Aufklärungsarbeit jetzt sogar erst richtig in Gang .

Schon die zuständigen Bundestagsabgeordneten waren seinerzeit mit Polizei und Verfassungsschutz hart in ins Gericht gegangen. Die Thüringer Landespolitiker legen noch eins drauf. Vom "Verdacht gezielter Sabotage" ist die Rede, vom "bewussten" Hintertreiben, das Neonazi-Trio dingfest zu machen. Auch wenn es für einen solchen Vorsatz bislang keinen eindeutigen Beweis gibt - so viel Klartext verdient Anerkennung und Respekt. Zehn Morde werden Uwe Böhnhardt , Uwe Mundlos und Beate Zschäpe zur Last gelegt. Neun Ausländer und eine deutsche Polizistin starben. Hätten die Sicherheitsbehörden umsichtig und verantwortungsvoll gehandelt, wären zumindest einige der Opfer höchstwahrscheinlich noch am Leben. Auch diese Botschaft lässt sich aus den Untersuchungen in Thüringen herauslesen.

Es ist ein schonungsloses Fazit, das die Angehörigen der Opfer wütend machen muss. Aber nicht nur sie. Es gibt auch eine politische Verantwortung. Ja, der Verfassungsschutz in Thüringen , woher die drei Neonazis stammen, wurde bereits umgebaut. Sondergruppen zur Bekämpfung des Rechtsextremismus wurden gebildet. Doch die Konsequenzen dürfen sich nicht auf den Freistaat beschränken. Schließlich mordete und raubte sich die braune NSU quer durchs Land, in Bayern genauso wie in Nordrhein-Westfalen oder Sachsen. Doch offenbar wachte jede Sicherheitsbehörde eifersüchtig über ihre eigenen Informationen, statt ein Gesamtbild daraus entstehen zu lassen, das eine frühzeitige Verhaftung der Terror-Truppe ermöglicht hätte. Gerade deshalb fällt es so schwer, das Desaster der Ermittlungen nur als Häufung unglücklicher Umstände und Pannen zu begreifen.

An konkreten Reformideen herrscht kein Mangel. Allein der NSU-Ausschuss des Bundestages hat voriges Jahr nicht weniger als 50 Empfehlungen aufgelistet. Mehr polizeiliche Sensibilität bei Straftaten gegen Ausländer wird da beispielsweise verlangt, vor allem aber ein besserer Informationsaustausch. Doch genau daran hapert es offenbar bis heute. Schon seit geraumer Zeit steht eine Überarbeitung des Bundesverfassungsschutz-Gesetzes auf der Tagesordnung. Nötig wäre eine zentrale V-Mann-Datei. Das lehrt jedenfalls der Skandal um die NSU-Aufklärung. Dazu müssten die Länder dem Bund allerdings mehr Kompetenzen übertragen, doch die Verhandlungen treten auf der Stelle. Nur ein Beispiel dafür, dass die besten Empfehlungen nichts nützen, wenn man sie versanden lässt.

Es ist gut, dass Thüringens Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht die Hinterbliebenen der NSU-Opfer gestern um Verzeihung für das Ermittlungs-Desaster bat. Noch besser wäre es, daraus umfassende Lehren zu ziehen - und die Aufklärungsarbeit fortzusetzen. Wenn es der Sache dient, auch mit neuen Untersuchungsausschüssen in Erfurt und Berlin.

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