Als alle Theorie noch nicht grau war

Saarbrücken · Die markante Raute auf dem Cover war sein Markenzeichen: Der kleine Berliner Merve Verlag war einer der wichtigsten Theorie-Verlage der 70er und 80er. Der Kulturwissenschaftler Philipp Felsch erzählt seine Geschichte und spürt einer Zeit nach, in der es hip war, Foucault in der Westentasche mit sich zu tragen.

Was war das für eine Zeit, in der junge Menschen in Scharen zusammenkamen, um sich in schlecht gelüfteten Kellerräumen der gemeinsamen Marx-Lektüre hinzugeben, sich Satz für Satz durch Adornos manierierte Textwüsten zu pflügen, stets auf der Suche nach Futter für die eigenen revoltierenden Gemüter. Die 1960er Jahre waren der Beginn einer Epoche, in der höchst komplizierte, zum Teil bis zur Unlesbarkeit verrätselte gesellschaftskritische Texte reißenden Absatz fanden. Ob sie immer ganz gelesen - und vor allem verstanden - wurden, ist eine andere Frage. Tatsache ist: Sie übten ungeheueren Sexappeal aus.

Mit jener "Zeit der Theorie", die Adorno 1965 als gekommen sah, beschäftigt sich Philipp Felsch in seiner reizvollen Studie "Der lange Sommer der Theorie: Geschichte einer Revolte 1960-1990". Dabei geht es dem 1972 geborenen Kulturwissenschaftler glücklicherweise nicht darum, ein weiteres Mal das "Innere der Bleiwüsten" zu durchschreiten; vielmehr nimmt er die "Geschichte eines Genres" ins Visier, spürt jenem Zeitgeist nach, der in der Theorie als Versuch, die Welt zu erklären, die Voraussetzung für deren Veränderung sah.

"Theorie war mehr als eine Folge bloßer Kopfgedanken; sie war ein Wahrheitsanspruch, ein Glaubensartikel und ein Lifestyle-Accessoire", schreibt Felsch. Zum Haupt-Protagonisten seiner elegant und bisweilen mit ironischem Unterton geschriebenen Darstellung hat er den Verleger Peter Gente erkoren, der mit seiner Frau Merve Lowien und anderen den West-Berliner Kleinverlag Merve gründete. Wie viele Zeitgenossen elektrisiert durch Adornos "Minima Moralia", war der 1936 geborene Gente ein typischer "68er", ohne je als führender Aktivist oder Autor in Erscheinung getreten zu sein. Seine Lebensaufgabe fand er in der Verlagsarbeit, die er 1970 mit Louis Althussers "Wie sollen wir ‚das Kapital‘ lesen" als erstem Titel aufnahm.

Anschaulich erzählt Felsch von den Produktionsbedingungen des "sozialistischen Kollektivs", vom eigenwilligen Umgang mit Copyright-Fragen, von stundenlanger Kollektiv-Lektüre und der bisweilen zermürbenden Praxis des "Ausdiskutierens". Vor allem aber zeichnet er Gentes Weg der intellektuellen Auseinandersetzung nach: von neomarxistischen Strömungen wie dem italienischem Operaismus hin zu den französischen Theoretikern, die schließlich zum eigentlichen Markenkern des Merve-Verlags wurden: Gilles Deleuze , Félix Guattari - und allen voran Michel Foucault .

1977, als die Gewalt-Eskalation des "Deutschen Herbstes" die linke Revolutions-Utopie endgültig beerdigte, veröffentlichte Gente - mittlerweile mit der neuen Lebensgefährtin Heidi Paris an seiner Seite - Jean-Francois Lyotards "Patchwork der Minderheiten", einen Abgesang auf den anmaßenden Anspruch einer "Repräsentation der Kleinen" durch eine linke Avantgarde. In der folgenden Ära "postmarxistischer Unübersichtlichkeit" bildeten die Franzosen für Merve den roten Faden. Statt der Analyse großer Zusammenhänge diente Theorie nun dem Erforschen eigener "Zonen der Intensitität".

"In einem Buch gibt's nichts zu verstehen, aber viel, womit man etwas anfangen kann. Nehmt, was ihr wollt!", schrieben Deleuze und Guattari 1980 in "Rhizom": Keine klaren Bedeutungen und Belehrungen mehr, der Leser muss selbst auf Entdeckungstour gehen. Zu diesem Zeitpunkt waren die Verleger jedoch bereits auf dem allmählichen Rückzug in das Ghetto der "Kunsttheorie-Bücher für den White Cube von Galerien", wie Felsch schreibt. Sein Buch endet mit dem Satz: "Die Zukunft der Theorie ist ungewiss." Zumindest muss man anerkennen, dass der Nachfolger des mittlerweile verstorbenen Verlegerpaars, Tom Lamberty, im besten Merve-Geiste weitermacht. Zuletzt erschienen Bücher über den Akzelerationismus, einer Theorie zur Zerstörung des Kapitalismus.

Philipp Felsch liest am Mittwoch, 8. Juli, 20 Uhr, in der Reihe "Böll & Hofstätter" im Saarbrücker Filmhaus. Karten (7/5 Euro) gibt es unter:

Tel. (06 81) 95 80 54 64.

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