Saarstatut und Treppensturz

Saarbrücken · Unfall oder Mord? Schriftsteller Marcus Imbsweiler ist mit „55“ ein Roman gelungen, der Krimihandlung und eine Familiengeschichte mit saarländischer Historie und Gegenwart kunstvoll zusammenbringt.

Eine Gratwanderung wagt der Autor Marcus Imbsweiler in seinem jüngsten Roman - und er meistert sie, ohne ernsthaft Gefahr zu laufen, die Balance zu verlieren. Der Reihe nach: Dürrweiler, im Spätsommer 2015. Als Helga ihren Ehemann Kurt morgens leblos im Keller findet, deutet alles auf einen Unfall hin. Das Alter, das kranke Herz, ein Sturz die Treppe hinab - die Todesursache scheint klar. Wären da nicht die Schramme an Kurts Stirn und das blaue Fahrrad, das zur Unglückszeit hinter dem Haus des ehemaligen Kommunalpolitikers gesehen wurde. Es gehört Joris, dem aus Berlin ins Saarland zurückgekehrten Enkel von Kurts ewigem Widersacher Fred. Ein junger Mann, der sich zwar bewusst gegen die Metropole entschieden hat, nun aber mit der Enge seiner Heimat hadert und sich dort kaum mehr zu integrieren vermag.

Polizist Bungert nimmt Joris ins Visier, auf beinahe freundschaftliche Art - man kennt sich im Dorf und traut dem jungen Mann keine Straftat zu. Aber die Fakten sprechen eine andere Sprache. Joris sieht sich zur Vorwärtsverteidigung gezwungen und beginnt selbst, Nachforschungen anzustellen.

Vor ihm türmen sich Fragen: Warum vertieft sich sein Großvater seit dem Unglück immer wieder in die alten Fotoalben aus den 50er-Jahren? Wieso wurden aus Kurt und Fred, die Seite an Seite gegen die Ablehnung des Saarstatuts im Oktober 1955 agitiert hatten, solch erbitterte Feinde? Warum ist Joris Mutter aus Dürrweiler weggegangen und hat die Brücken zu ihrer Heimat bis auf wenige Briefkontakte fast vollständig abgebrochen? Was hat es mit dem Brief auf sich, den Helga für Joris aufbewahrt hat und der für ihn ein irritierendes Andenken an seine inzwischen verstorbene Mutter ist?

Und dann ist da auch noch Kurts unrühmliche Rolle im Widerstand gegen die Unterbringung von Flüchtlingen in der leer stehenden Dorfgaststätte. Motive für einen gewaltsamen Tod Kurts scheint es zu geben, aber wie Joris die einzelnen Puzzleteile auch dreht und wendet - die Logik erschließt sich ihm nur sehr zögerlich. Aber ganz allmählich wird ihm die tragische Vergangenheit seiner eigenen Familie klar, die untrennbar mit den politischen Ereignissen verbunden ist, die das Saarland im Herbst 1955 in Atem hielten.

Am 23. Oktober 2015 jährte sich die Abstimmung über das Saarstatut zum sechzigsten Mal. Zum selben Zeitpunkt steht Deutschland mit der Ankunft hunderttausender Flüchtlinge vor einer der größten Herausforderungen der vergangenen Jahrzehnte. Marcus Imbsweiler ist die auf den ersten Blick gewagt und gar konstruiert erscheinende Verknüpfung von Zeitgeschichte und Tagesaktualität problemlos gelungen. Den Handlungsstrang um die Bürgerbewegung gegen die Flüchtlingsunterbringung entwickelt er dezent im Hintergrund, er dient eher dem Beweis für Kurts rechtslastige Gesinnung und nicht als Reflexion der politischen Lage. "55" ist kein klassischer Krimi, die Aufklärung des Mordes tritt hinter Joris' Geschichte zurück und ist am Ende nur der Anlass, der Imbsweiler dazu dient, mit sehr viel Sympathie und Einfühlungsvermögen für seinen Protagonisten das Bild eines Suchenden zu zeichnen - und auch zurückzublicken auf ein bedeutendes, spannendes Kapitel der saarländischen Vergangenheit.

Marcus Imbsweiler: 55. Conte Verlag, 254 Seiten. 13,90 Euro.

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