In guten wie in öden Zeiten

Saarbrücken · Sie haben zwar die Hochzeits-Suite gebucht, doch das Wochenende an den Niagarafällen soll das Ende ihrer Ehe besiegeln. Art und Marion, die Figuren des Romans „Die Chance“, haben sich, so scheint es, aneinander satt gelebt.

Was amerikanische oftmals von europäischen Autoren - und vor allem deutschen - unterscheidet, ist die Klarheit, Reduziertheit ihres Erzählens. Sie überblenden nicht beständig Erzähl-, Stil- und Zeitebenen, fächern Geschichten nicht notorisch in Nebenstränge auf, überladen sie nicht mit Bedeutungen. Komplexität ist für sie kein Selbstzweck. Anders als tendenziell in der zeitgenössischen deutschen Literatur, wo Vielschichtigkeit das Maß aller Dinge zu sein scheint. Daher wirken viele US-Romane geradliniger und schlanker.

Insoweit ist der 1961 geborene, in Connecticut lebende Stewart O'Nan , von dem nach seinem sogleich mit dem Faulkner-Preis bedachten Debüt "Engel im Schnee" (1993) auch alle weiteren Romane ins Deutsche übersetzt und breit rezipiert wurden, ein sehr amerikanischer Autor. Sein neuer erzählt seine Geschichte zwar schnörkellos, er fokussiert sich auf ein Ehepaar und ein Wochenende. Umso tiefer aber leuchtet er die Motive und Unzulänglichkeiten seiner Figuren aus und liefert so das Psychogramm einer langen Mittelstands-Ehe.

Art und Marion Flower - beide Anfang 50, seit einem Jahr arbeitslos, hoch verschuldet, die Kinder sind aus dem Haus - haben für 249 Dollar ein Valentinstag-Special an den Niagara-Falls gebucht. Vor 30 Jahren führte sie ihre Hochzeitsreise dorthin. Jetzt soll es ihre Trennung besiegeln: Anschießend wollen sie sich scheiden lassen.

So ist es vereinbart. Eigentlich. Während sie ihr letztes Wochenende "nur mit Würde überstehen" will und sich der Trägheit der mittleren Jahre überlässt, hofft er auf einen Neuanfang, umwirbt sie und büßt tapfer für eine alte Affäre, die sie ihm weiterhin vorhält. Dass Marion später eine mit einer Frau anfing, hat Art nie erfahren. Im Reisegepäck haben sie ihr letztes Geld. Im hoteleigenen Casino wollen sie beim Roulette alles auf eine Karte setzen. Art vertraut auf eine Wahrscheinlichkeitsmethode: Immer auf Schwarz setzen und den Einsatz nur verdoppeln, wenn man verliert. Und wenn es schiefgeht? Dann haben sie es sich wenigstens ein letztes Mal gut gehen lassen - in der Hochzeitssuite, mit Whirlpool und Champagner.

O'Nan wechselt meisterlich von der situativen Schilderung - Art und Marion im Bus, im Restaurant, in der Warteschlange - in die Innenschau. So erfahren wir, was beide eigentlich empfinden, dem anderen aber nicht (mehr) zeigen oder sagen können oder wollen. O'Nan ist nicht nur ein unerhört empathischer Schriftsteller, er glaubt auch an das Gute im Menschen. "Solange sie einander hatten, waren sie reich." Psychologisch versiert und nicht zu Pathos neigend, kann O'Nan sich solche Formulierungen leisten. Bei anderen empfände man sie als Kitsch.

Art ist in seiner Fürsorglichkeit und seinem Zweckoptimismus berechenbarer als die zwischen Bestrafungsritualen, Tagträumen vom Alleinsein und ihrem Hunger nach Leichtlebigkeit hin- und hergerissene Marion. "Seine Leidenschaftlichkeit empfand sie als Kompliment, doch irgendwie empfand sie es inzwischen als Last, begehrt zu werden."

O'Nan zeigt: Im Gegenüber arbeiten wir uns immer an uns selbst ab. Weil er den vermeintlichen Ruin ihrer Ehe als ein Urteil in eigener Sache empfindet, ist Arts tapferer Kampf eine Form der Selbstrettung. Weil Marion ihre narzisstische Kränkung nie ganz überwunden hat, muss sie immer siegen. Werden sie das am Ende sogar beide tun?

Stewart O'Nan : Die Chance. Aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel, Rowohlt , 224 Seiten, 19,95 Euro.

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