Der Kletter-Gott der Börse

Saarbrücken · Die Intendantin hat einen Extrakt aus dem über 500 Seiten starken Emile-Zola-Roman „Das Geld“ (1890/91) gewonnnen – und zeitlose Erkenntnisse über die Zockerbude Börse. Am Samstag war die Uraufführung.

 Hat einen glänzenden Auftritt als Spekulant Saccard: Georg Mitterstieler.

Hat einen glänzenden Auftritt als Spekulant Saccard: Georg Mitterstieler.

Foto: Björn Hickmann

Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?, fragte einst Bert Brecht. So gesehen haben wir es bei Zolas Helden Saccard aus dem Spekulantenroman "Das Geld " mit einem Schwerstverbrecher zu tun. Doch einen Durch-und-durch-Fiesling trifft man im Saarbrücker Staatstheater nicht, dafür jubelt Georg Mitterstieler der Hauptfigur, einem frühkapitalistischen Investmentbanker im Paris Napoleons III., zu viel Hallodri-Potenzial unter. Man schmunzelt nicht selten statt sich zu empören. Erbarmen mit dem Börsenhai? Dessen sagenhafter Entfesselungs-Nummer für die "Banque Universelle" zwischen 1864 und 1867 schauen wir zu - und dem finalen Börsengemetzel. Wären nur die Hexenkessel-Bilder von zugekoksten Börsianern aus Martin Scorseses Film "Wolf of Wallstreet" (2013) nicht mehr so frisch. Dann wäre man vielleicht mit einem historischen Pendant zufrieden, das naturgemäß weniger Schocker denn Parabel sein kann. Dagmar Schlingmann und ihre Dramaturgin Ursula Thinnes gehen die Sache nicht anklagend, zornig oder sarkastisch an. Die Moral ihres "Geld "-Extraktes beschränkt sich darauf, aufzuzeigen, wie unkalkulierbar Irrationalitäten, kriminelle Energien und Kleinanleger-Gier auf den Kapitalmärkten zusammenwirken. Damals und heute.

Am Anfang der "Banque Universelle" steht eine klassische Geschäftsidee: den Orient mit Bahnstrecken zu erobern und die Silberminen des Karmel abzuräumen. Sie stammen vom Ingenieur Hamelin (Robert Prinzler). Der fuchtelt, wie alle Figuren, viel mit Papieren und Plänen herum. Die ballen sich zu Müll auf der Bühne. Denn Saccard schwebt von Beginn an in anderen Sphären. Seine Aktien stammen aus Utopia - und einem egomanisch verseuchten Ich. Ein grandioser Mitterstieler legt die Triebfedern Saccards wie eine klaffende Wunde offen: Nicht Habgier und Lust auf ein Luxus-Lotter-Leben steuern ihn, sondern Allmachts-Fantasien, die stärkste aller Drogen. Mitterstieler agiert wie ein Beschaffungskrimineller, zeigt einen hektischen, schwitzenden Börsen-Malocher, ist der Kletter-König unter allen Darstellern. Denn Saccard beherrscht als Einziger virtuos die bühnenhohe schräge Wand. Die trägt zwei Kurslinien der Börse und hat in großen Höhen eingelassene Türen. Diese Kulisse von Sabine Mader sieht aus wie ein riesiges, nach oben gebogenes weißes Blatt Papier und erinnert an eine Sprungschanze. Eine gewagte Konstruktion, die die Darsteller zu Manövern zwingt, die mitunter angestrengt wirken.

20 Figuren treten in schneller Folge auf, elf Darsteller bewältigen sie in Mehrfachrollen. Dies bedingt, dass die wenigsten Kontur gewinnen. Ein Leuchtschrift-Band erklärt Situationen, auch Chor-Kommentare helfen bei der Bewältigung des überreichen Zola-Stoffes. So recht Fahrt aufnehmen wie ein Thriller will der aber nicht. Schlingmann interessiert an ihrer Vorlage nicht die Finanzwelt-Analyse - an diesem Punkt lernt man deshalb nichts hinzu. Auch geht es nicht um eine authentische Milieu- und Sozialstudie der ersten Bösewicht-Kapitalisten, obwohl die historischen Kostüme von Bettina Latscha dies nahe legen könnten. Schlingmann liefert uns ein souveränes Lehrstück über Verblendung und Suchtverhalten, eine Typenparade, in der die meisten Figuren an den Rand der Karikatur getrieben werden. Klaus Meininger verblüfft als lethargisch-lauernder Bankier Gundermann, der Saccard zur Strecke bringt. Andreas Anke fällt als schmieriger Erpresser auf, Yevgenia Korolov überzeugt als kluge, aber durch ihre Liebe zu Saccard zutiefst verstörte Karoline. Und Cino Djavid ruft mal Kinski, mal de Funès auf - fabelhaft. Wobei die Entdeckung des Abends Saskia Taeger heißt. Ihre Baronin Sanddorf zuckt so instabil wie die wippenden Federn an ihrem exzentrischen Hut, eine Nervenbündel-Furie, erlösungslos überreizt.

Es ist eine oft unterschätzte Regie-Tugend, mit einem Stück die Besonderheiten eines Ensembles hoch leben zu lassen. In "Geld " gelingt Schlingmann dies vortrefflich. Großer Applaus, zu Recht.

Nächste Termine: Samstag; 3., 12., 14., 24., und 31. Oktober. Karten: Tel. (06 81) 309 24 86.
Die Premiere von "Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone" in der Alten Feuerwache

 Roman Konieczny als Christopher. Foto: Thomas M. Jauk

Roman Konieczny als Christopher. Foto: Thomas M. Jauk

Foto: Thomas M. Jauk


Furiose Momente, ein ausgeklügeltes Sounddesign - aber ein laues Ende. Die Premiere von "Supergute Tage" bot am Freitag nicht nur bei der Ausleuchtung der Bühne Licht und Schatten.

Von SZ-Redakteur Tobias Kessler

Saarbrücken. Beginnen wir mit dem Ende. Denn es ist der Schwachpunkt des Stücks: Die Spannung verpufft uninspiriert in einer Harmonie, die man diesen angeschlagenen Bühnen-Charakteren zwar gönnt; dennoch wirkt das Ende merkwürdig unbefriedigend nach den zwei Stunden zuvor.

Das Stück erzählt vom 15-jährigen Christopher (Roman Konieczny). Er leidet am Asperger-Syndrom, einer Form des Autismus. Nähe behagt ihm nicht, das Berühren der Fingerspitzen von Vater und Sohn ist das Höchste der Gefühle - und ein Entgegenkommen für den Alleinerziehenden (Klaus Müller-Beck), der den Sohn doch gerne mal in den Arm nähme. "Menschen verwirren mich", sagt Christopher, ihr Plaudern, ihre merkwürdigen Metaphern, ihre Notlügen. Er will Klarheit, Ordnung, und wenn ihm alles zu viel wird, flüchtet er sich, Primzahlen deklamierend, in die eindeutige Welt der Mathematik. Lieber als die Menschen sind ihm die Hunde: weniger komplex, weniger Gesichtsausdrücke, die zu entschlüsseln ihm schwer fallen. Umso härter trifft es ihn, als der Hund in der Nachbarschaft getötet wird. Das zwingt ihn aus seiner Isolation heraus. Er befragt Nachbarn, sich selbst überwindend, und erfährt etwas, was ihn vom Land nach London treibt. Für Christopher beginnt ein Abenteuer, das gegen seine Natur geht, wider seine Krankheit.

So wie Christopher ins Unbekannte reist, reist der Zuschauer ins Innenleben Christophers. Die Umsetzung dessen ist die große Stärke der Inszenierung von Antje Thoms. Der Weg zum Zuschauerraum in der Feuerwache führt durch labyrinthische Gänge (Christophers Hirnwindungen?) zur Bühne, die anfangs beengend schmal ist: Ihr Hintergrund, wenige Meter vor der ersten Zuschauerreihe, wirkt wie die Wand eines Lagerraums. Die Welt, so scheint es, spielt sich dahinter ab, dringt durch Störgeräusche hinein, durch sich öffnende Türen. Gedanken von Christopher werden an die Wand projiziert, ebenso (als Film) Erinnerungen an die Mutter (Christiane Motter) - man fühlt sich mitten im Kopf der Figur, Textzeilen an der Wand überlagern sich, als liefe das Hirn mit Wörtern voll.

Im zweiten Teil öffnet sich die Bühne weit nach hinten. Christopher ist unterwegs, per drahtlosem Kopfhörer werden die Theatergänger Geräuschen und pulsierender Electro-Musik ausgesetzt, Stroboskoplicht flackert im Brutalo-Staccato, Krach und Stille wechseln fast schmerzhaft, Menschen ziehen hektisch ihre Kreise um Christopher. Die Überforderung, der Druck, die mangelnde Übersicht werden körperlich spürbar. Dieser Teil (Bühne, Video- und Klanginstallationen von Florian Barth) ist furios und der Höhepunkt des Abends.

Gut auch, dass Roman Konieczny den autistischen Christopher nicht sentimental spielt; man fühlt zwar mit, wenn er mimisch mechanisch versucht, über einen Witz zu lachen, den er nicht versteht; aber er lässt die Figur auch an die Nerven gehen, mit monotonen Monologen, mit Ichbezogenheit. Ihn und das gute Ensemble bejubelt das Publikum. Das Ende machen sie fast vergessen.

Nächste Termine: Samstag, Sonntag; 3., 8., 21., 31. Oktober; das Stück läuft bis Februar.

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