Dampf, der Gemeinschaft stiftet

Neunkirchen · Sie sind bereits ausverkauft, die Aufführungen von „Steam“ in der Neunkircher Gebläsehalle. Nächstes Jahr wird das märchenhafte Science-Fiction-Stück wieder aufgenommen. Am Freitag war Premiere: nicht perfekt, aber liebenswert.

 Schlusszene mit Kristin Backes, Jens Fried und Andreas Fischer (v.r.). Foto: Jörg Jacobi

Schlusszene mit Kristin Backes, Jens Fried und Andreas Fischer (v.r.). Foto: Jörg Jacobi

Foto: Jörg Jacobi

Beim Schlussbild wogt die Gebläsehalle-Bühne als Masse Mensch: gut gelaunt, aufgedreht. Das Publikum? Nach über drei Stunden ein wenig strapaziert, aber stolz auf die rund 150 "Steamteamer" vorne - Laien. Statt aufgeputschter Partylaune, mit der die meisten professionellen Musicals ihr Publikum nach Hause schicken, erlebt der gesamte Saal etwas Seltenes, Kostbares: Gemeinschaft.

Der Abend fühlt sich wie ein Familienfest an. Das muss man mögen und wissen, wenn man nach Neunkirchen fährt. Dort läuft eben kein perfektes Kommerz-Musical ab, obwohl der Werbe-Großauftritt für das Science-Fiction-Retro-Märchen "Steam" und die urban anmutende Industriekultur-Location die Anspruchshaltung provozieren. Nein, man kauft Karten für ein "Musicalprojekt", bei dem sich grenzenlose Motivation mit stimmlichen und darstellerischen Grenzen zu arrangieren hat. Und man sollte was übrig haben für Jules Verne und das Steampunk-Genre, das Viktorianisches mit Futuristischem verschmilzt. In "Steam. Ein Augenblick in der Ewigkeit" (Buch: Ellen Kärcher/Francesco Cottone) prallen drei Welten aufeinander: der Ausbeuterstaat Imorta, der den Dampf des ewigen Lebens zum Überleben braucht, der im Proletarierreich Aquatown erzeugt wird, und die Naturgeister-Sphäre Aetherna, die die Befreiung der Menschen anschiebt. Eingebaut ist eine Bewährungsproben-Geschichte der Spieluhr-Macherin Martha.

Doch selbst unter besten Wissens-Voraussetzungen hinterlässt die Uraufführung einen disparaten Eindruck. Gelingen und Missraten liegen dicht an dicht. Da gibt es vorzügliche Momente und Songs, etwa das bittersüße Duett zwischen Diener Viktor (Philipp Allar) und der kahlköpfigen Diktatoren-Königin Esteam (Heike Lismann-Gräß), einer Mischung aus intergalaktischer Leder-Lady und glatzköpfiger Elisabeth II mit Krinoline. Köstlich auch der Nachthemd-Auftritt von Phileas (Andreas Fischer). Dietmar Feiock besticht als stotternder Roboter-Priester und Kristin Backes macht Martha durch kindliche Leidenschaft zur wahren Heldin. Auch klingt das Ganze fabelhaft, es wird live musiziert. Francesco Cottone und Amby Schillo gelang eine abwechslungsreiche, sanfte Komposition mit Platz für Lateinamerikanisches, Polka und Streicher-Filmmusik.

Andererseits rutschen nahezu alle Szenen mit Erd-, Wasser- und Feuergeistern Richtung Karnevals-Umzug und die Wortgefechte der Minister in Imorta segeln an der Satire vorbei. Vermisst wird auch ein Charakter mit verstörenden Facetten jenseits der Vorhersehbarkeit. Die treuherzige Story badet in Personenfülle statt starken Darsteller-Typen wie Jens Fried (Trebor) oder Enrico Tinebra (Zacharias) Raum zu lassen. Bei "Stumm" (2009) gelang dies großartig. Dafür hat diesmal das Auge sehr viel zu tun: Die Kostüme von Jochen Maas surfen durch alle Jahrhunderte. Man sieht Grubenlampen, Engelsflügel, Cancan-Rüschen, wähnt sich im "Maxim" oder bei den "Germinal"-Industriearbeitern. Regisseurin und Choreografin Ellen Kärcher verteilt ihre 85 Akteure auf drei Spielflächen: das Laser durchzuckte Imorta liegt über den historischen Werkstätten der Aquatown-Malocher, die Aetherna-Geister hausen in Zelten. Es herrscht Überfülle, Wuselei. Will Kärcher ausnahmslos allen einen Auftritt ermöglichen? Jedenfalls verirrt sie sich im Ideenwald. Von der Harry-Potter-Hexenküche bis zu akrobatischen Zirkus-Einlagen lässt sie alles zu, lenkt es zudem in zu brave Bahnen. Als künstlerische Richtschnur taugt Gutherzigkeit nicht, wohl aber als Basis für ein Wohlfühlerlebnis.

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