Auf dem Weg zum „Suppenküchenstaat“

Sie hat mit politischen Aktivisten, Experten und Betroffenen gesprochen. In einer Reportagensammlung zeigt die Journalistin Gabriele Goettle, wohin die neoliberale Sozial- und Wirtschaftspolitik in Deutschland führt.

Es gibt wenige deutche Journalisten, die sich in ihrer Arbeit über Jahrzehnte so treu geblieben sind wie Gabriele Goettle . Und wohl keinen, der dabei wie sie ein eigenes Genre schuf. Auch ihr aktuelles Buch, das den Niedergang des Sozial- und Gesundheitssytems dokumentiert, folgt einmal mehr Goettles Prinzip, im Dienste der Wahrheitsfindung Einzelnen das Wort zu geben und selbst hinter den Monologen zu verschwinden.

Ob es um Transplantationsmedizin, um atomare Strahlenbelastung, Leiharbeiter oder Armutsforschung geht: Goettles Anspruch ist es, uns bei jedem Thema mit möglichst viel kritischer Munition zu versorgen, hinter die Kulissen zu blicken und dadurch die stets der Verschleierung des Tatsächlichen dienende "offizielle Sicht der Dinge" zu desavouieren. Als Türöffner sucht sie sich Leute vom Fach - engagierte Bürger, passionierte Gerechtigkeitsfanatiker oder unbequeme Wissenschaftler, die eines verbindet: ihr unermüdliches Aufbegehren gegen das, was Politiker und andere Lobbyisten uns jeden Tag weismachen wollen.

Es sind keine Gespräche, die diese gesammelten, zwischen 2011 und 2014 in der "taz" erschienenen Texte dokumentieren. Es sind vielmehr gestaltete Monologe, die Goettle selten für vertiefende Nachfragen unterbricht. Was erfahren wir? Erstens, dass die Demontage des Sozialversicherungstaates keine linke Polemik ist, sondern eine neoliberale Geschäftsidee, die immer perfidere Ausmaße annimmt und die nach den mahnenden Worten des Kölner Politikwissenschaftlers Christoph Butterwegge inzwischen einen reinen "Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchenstaat" heraufbeschwört. Zweitens, dass ein ganzes Heer von Wirtschaftslobbyisten die Politik längst unterwandert hat und öffentliche Meinungsbildung wie Gesetzgebung weitgehend steuert. Drittens, dass die "Prekarisierung" der Lohnarbeit immer mehr Leute in lebenslange Armut stürzt, weil beispielsweise das Millionenheer der "geringfügig Beschäftigten" im Alter alles andere als geringfügig rentenunterversichert sein wird, wie die Gelsenkirchener Putzfrau Susanne Neumann ausführt, Vorsitzende der Bundesfachgruppe Gebäudereiniger der IG Bau. Viertens, dass im Beamtenstaat Deutschland stillschweigend ein "Zweiklassenrecht bei der Altersversorgung" implementiert wurde und - nach Einschätzung des Rentenexperten Horst Teufel - die Rentenkassen zum Wohle der Beamten vom Gesetzgeber geplündert worden sind.

Die Stärke des Buches, die pointierten Aussagen der von Goettle zusammengetragenen Gewährsleute, ist gleichermaßen dessen Schwäche. Kann man dem Buch doch eine gewisse Einseitigkeit des Blickwinkels vorwerfen. Dennoch sind die bei Goettle vereinten Sozial- und Systemaktivisten keine bloßen Kritikaster. Sie wissen, wovon sie reden, zeigen bewundernswerte Ausdauer im Nutzen ihrer bürgerlichen Rechte und haben mitunter vorbildhafte Initiativen etabliert: ob nun das stiftungsfinanzierte Berliner Gesundheitszentrum für Obdachlose oder die von einem pensionierten Augenarzt in Ulm initiierte "Armenklinik", in der 20 Ärzte nebenher Bedürftige umsonst behandeln.

Gabriele Goettle : Haupt- und Nebenwirkungen. Zur Katastrophe des Gesundheits- und Sozialsystems. Kunstmann, 252 Seiten, 19,95 Euro.

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