Aus der Statistikwelt der Verlustgewinner

Frankfurt · Gestern Abend wurde die 67. Buchmesse eröffnet. Ein großes Debattenthema fehlt ihr, doch könnte womöglich die anhaltende Flüchtlingswelle die von Messedirektor Boos gewünschte Politisierung des Frankfurter Schaulaufens in Gang setzen.

Buchmessendirektor Juergen Boos kündigt die "politischste Messe seit langem" an. Wie sollte es auch anders sein? Lange hat kein Thema die nationale Öffentlichkeit derart beherrscht wie seit Wochen nunmehr das Flüchtlingsthema. Wo, wenn nicht in Frankfurt sollte diskutiert werden über Flucht und Vertreibung, aber auch über Bürgerkriege und Demokratieabbau? Die Messe, zu der wieder tausende Verlage aus über 100 Ländern anreisen (darunter auch Verlage aus den bürgerkriegsverwüsteten Ländern Syrien und Nigeria), ist nicht nur der größte Handelsplatz der Welt für Literatur und Lizenzen, sie begreift sich auch als Debattenforum. Will sie nicht nur Diskurse spiegeln, sondern auch Position beziehen, muss sie sich politisieren.

Dass Boos auf den Flüchtlingszug aufspringt, dürfte jedoch auch damit zu tun haben, dass der Branche insgesamt augenblicklich ein eigenes großes Thema fehlt. Der Onlinehandel - und damit in erster Linie Amazon - ist es nicht mehr, weil er nicht mehr als Todesbote des stationären Buchhandels gilt. Zwar wird inzwischen jedes sechste Buch in der Republik über den Versandbuchhandel verkauft, dennoch kam es 2014 nach Jahren konstanter Zuwächse von Amazon & Co erstmals zu einer Trendumkehr, die sich 2015 offenbar verstetigt: Während der Umsatz der Buchhandlungen relativ stabil blieb (minus 1,2 % im Jahr 2014), verlor der Onlinehandel mit 3,1 Prozent deutlich mehr. Umso beherzter stimmt man wieder das Hohelied auf den stationären Buchhandel an. Das Schlagen des Totenglöckleins kommt also gerade ein wenig aus der Mode. Immerhin geht jedes zweite Buch über eine der kulturlandschaftlich als vorbildlich geltenden Buchladentheken. (Wobei diese Zahl sich auf alle 6000 Buchverkaufsstellen bezieht, lediglich 3800 davon aber sind unabhängige Läden - sprich weder Teil einer Kette noch verkappte Schreibwarengeschäfte.) Die andere Hälfte vom Kuchen teilen sich weitgehend die Verlage per Direkthandel (20 %) und der eher stagnierende Onlinesektor (17 %).

Anders als lange befürchtet, wird Amazon den stationären Buchhandel mithin nicht ruinieren. 17 Prozent sind dafür zu wenig. Insoweit taugt das Thema nicht mehr als Aufreger - anders als Amazons viel kritisierte, Manchester-Kapitalismus-artige Arbeitsbedingungen und die Preisdiktate des US-Konzerns gegenüber Verlagen, deutschen wie amerikanischen. Im vergangenen Jahr entzündete sich der Konflikt hierzulande an überzogenen Rabattforderungen Amazons bei eBooks. Die vor Jahresfrist erzielte Einigung sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass noch von ganz anderer Seite von Amazon Ungemach droht. Wie bei den eBooks, wo der Konzern über seine Tochterfirma Audible als Verleger (und Marktführer) auftritt, droht seit längerem Amazons Einstieg ins Printgeschäft. Das Szenario: Nicht mehr lieferbare Titel von Verlagen will man gerne nachdrucken, um dann mittelfristig womöglich deren jeweilige Autoren gleich mit abzuwerben.

Während Amazon insoweit für Verlage ein enormes Gefahrenpotential darstellt, hat sich ein anderes aus dem Reich der digitalen "Gutenberggalaxis" erledigt: Der vor Jahren verhießene eBook-Triumph und damit Tod des gedruckten Buches blieb aus. Nur fünf Prozent des Branchenumsatzes entfallen heute auf E-Books, auch deren Wachstumsdynamik ist extrem ausgebremst (die Steigungsrate fiel seit 2011 von 191,4 % auf zuletzt 13 %). Selbst in den USA holt das gedruckte Buch wieder auf, weil das eBook wachstumstechnisch am Limit (25 % Marktanteil) angekommen ist und die Umsätze der eBook-Händler einbrechen. Hierzulande ist derweil zu erwarten, dass die Verlage bei ihren Flat ratemodelle zurückrudern werden, weil sie sich damit umsatzbezogen kannibalisieren.

Der digitale Buchmarkt wird den analogen nicht verdrängen, so viel ist klar. Und auch, dass im Buchhandel ansonsten wie in der Medienbranche generell moderate Verluste als Gewinne verkauft werden: Seit Jahren schwinden die Branchenumsätze, 2015 wird ein Minus von drei Prozent erwartet. Der Zweckoptimismus aber stirbt nie aus. Tatsächlich findet sich in den Zahlenkolonnen, mit denen der Börsenverein des Deutschen Buchhandels jeden Oktober um sich wirft, immer etwas, woran sich die Branche aufrichten kann: Im Zehnjahresvergleich, zeigen die jüngsten Diagramme, setzt man 2015 mit erwarteten 9,32 Milliarden Euro mehr um als 2005. Allein ein Drittel davon wird weiter mit Belletristik erzielt. Was nicht heißt, dass die Deutschen nun Schöngeister wären. Umgeschlagen werden in erster Linie Krimis, Unterhaltungs- und Fantasy-Stoffe.

Dass der Buchhandel gerne auf Zahlen reduziert wird, in deren Dickicht man sich beim Tabellenstudium schnell verliert, hat Gründe: Die Branche selbst redet kaum über Inhalte, man kolportiert vorzugsweise Statistiken. Wo wirtschaftliche Interessen derart im Fokus sind, sollte das geplante Freihandelsabkommen TTIP mit seinen kulturellen Implikationen für die Messe Anlässe genug bieten, sich im Sinne ihres Direktors zu politisieren.Die Buchmesse hat sich zum Auftakt für Meinungsfreiheit starkgemacht. Der britisch-indische Schriftsteller Salman Rushdie , der immer noch unter einer iranischen Todes-Fatwa lebt, betonte gestern Abend in einer Gastrede: "Die Begrenzung der Meinungsfreiheit ist nicht nur Zensur, sie ist ein Angriff auf die menschliche Natur." Der größte Angriff gegen die Meinungsfreiheit gehe von der Behauptung westlicher Denker aus, dieses Recht sei kulturell spezifisch und gelte nur in bestimmten Ländern. Weitere Angriffe gebe es durch das Streben nach "Political Correctness", daneben durch "eine merkwürdige Allianz zwischen Teilen der europäischen Linken und radikalen Denkern des Islams", so Rushdie. Seit Jahren schon leistet sich nur noch eine Handvoll regionaler Verlage (namentlich Conte, Satzweis, Ost-West, Neue Erde, Omniscriptum und juris) die Präsenz in Frankfurt . Nicht zuletzt, weil das Kultusministerium einen Gemeinschaftstand auf der Leipziger Messe subventioniert, verzichten etwa Geistkirch und Röhrig. Der regionale Buchhandel habe zwar zu kämpfen und immer mehr zu investieren, doch beklage man dieses Jahr nur zwei Ladenschließungen (Schmidt in Heusweiler, Balzert in Völklingen), so Klaus Feld, Landesgeschäftsführer im Börsenverein. Die Buchläden machen ihm mehr Sorgen als die Verlage. Mittelfristig drohe eine "Verödung der Nebenzentren".

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