Die Mär vom vorbildlichen Aufsteigerland

Das friedfertige, säkulare Indien ist ein Trugbild, sagt der irische Historiker Perry Anderson. Er hat eine Essay-Sammlung vorgelegt. Titel: „Die indische Ideologie“.

Mit 1,25 Milliarden Bewohnern ist Indien heute nach China das bevölkerungsreichste Land. Der 1947 von den Briten in die Unabhängigkeit entlassene Subkontinent gilt als größte Demokratie. In drei Essays , die unter dem Titel "Die indische Ideologie" als Buch vorliegen, zeichnet der irische Historiker Perry Anderson die Verwerfungen in dem Vielvölkerstaat nach und zieht dabei wenig Schmeichelhaftes ans Licht. Er stürzt Gandhi vom Heiligenpodest und räumt mit dem Mythos multi-ethnischer Vorbildlichkeit Indiens auf, indem er die Repression von Minderheiten, darunter der 138 Millionen dort lebenden Muslime , geißelt und jene westliche Lesart infragestellt, die Indien als postkoloniale Musterdemokratie verklärt.

Die britische Ostindien-Kompanie, die den Subkontinent ab 1756 unterwarf, vermochte das riesige Gebiet nur zu kontrollieren, weil sie dessen historische Fragmentierungen (ethnische, sprachliche, gesellschaftliche und religiöse) gezielt für eigene Zwecke ausnutzte. Zwei Fünftel des Territoriums beließ man hinduistischen Fürsten, im übrigen Land setzte man nach dem Prinzip "Besitzwahrung gegen Kooperation" auf die Großgrundbesitzer. Als Gandhi 1915 die Kongresspartei instrumentalisierte und daraus eine Massenbewegung formte, schien die Unabhängigkeit nahe. Doch nach Ausschreitungen ließ er die Segel streichen. Laut Anderson, weil er eine Revolution mehr fürchtete als das Empire. Sein einleitender Essay demontiert das bis heute herrschende Bild vom Gewaltlosigkeit predigenden, selbstlosen Charismatiker Gandhi. Für dessen Taktieren, seinen Wankelmut und seine Selbstherrlichkeit führt er zahlreiche Beispiele an.

Wie zuvor weitgehend die Briten hielt sich auch der prinzipienlose Machtpolitiker Nehru (und danach die von seinem Familienclan bis heute mit gelenkte Kongresspartei) auf Kosten der Muslime an die einflussreichen hinduistischen Kreise. Die Teilung des Landes (durch Abspaltung Pakistans) folgte - geschürt von blutigen Religions-Fehden. Ungeachtet aller vermeintlichen Säkularisierungsbestrebungen ließ sich der religiöse Riss nie mehr kitten, wie die Konflikte im Punjab und in Kaschmir zeigen.

Anderson kritisiert, dass selbst kritische Intellektuelle bis heute die Mär von einer angeblich Jahrtausende alten hinduistischen Staatstradition pflegen. Womöglich, weil das Kastenwesen immer noch als für relative Ruhe sorgender Unterbau der indischen Demokratie dient und inzwischen klassische Klientelpolitik zeitigt. Religion und Nation bleiben so eng verzahnt, dass jeder Entmystifizierungsversuch Sympathieverluste nach sich zieht. Daher pflegt man, so Anderson, in Indien wie im Westen das Bild vom postkolonialen, vorbildlichen Aufsteigerland. Umso wichtiger ist ein Buch, das diese Verklärung offen legt.

Perry Anderson: Die indische Ideologie. Berenberg Verlag, 192 Seiten, 22 Euro.

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