Fahnen, Flaschen, Frontpostkarten

Dudweiler · Welche Spuren hat der Erste Weltkrieg in den Familien der Region hinterlassen? Welche Alltagsgegenstände aus den Jahren 1914 bis 1918 haben die Zeiten überdauert, und was erzählen sie über die „Urkatastrophe“ des vergangenen Jahrhunderts? Die kleine, aber feine Ausstellung „Jedermannskrieg“ im Literaturarchiv in Dudweiler gibt Antworten.

 Seine Reservistenflasche ließ der 17-jährige Bergmann Johann Rollinger zuhause, als er 1915 an die Ostfront zog. Er kehrte nicht lebend zurück.

Seine Reservistenflasche ließ der 17-jährige Bergmann Johann Rollinger zuhause, als er 1915 an die Ostfront zog. Er kehrte nicht lebend zurück.

 In dieser Mappe sammelte der 13-jährige August Sauder Zeitungsartikel über den Krieg.

In dieser Mappe sammelte der 13-jährige August Sauder Zeitungsartikel über den Krieg.

 Nelia Dorscheid

Nelia Dorscheid

 Das „Lieblingsspielzeug“ des Regierungsbaurats Georg Theis transportierte Zigarren. Fotos: Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass

Das „Lieblingsspielzeug“ des Regierungsbaurats Georg Theis transportierte Zigarren. Fotos: Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass

Ja, ein gewisses Wagnis sei es schon gewesen, ein fertiges Ausstellungskonzept und einen konkreten Eröffnungstermin zu präsentieren, ohne zu wissen, ob überhaupt genug Objekte für eine Schau zusammen kommen würden, gesteht Sikander Singh rückblickend. Im vergangenen Herbst hatte der Chef des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsass einen Aufruf in der Saarbrücker Zeitung gestartet. Singh suchte Alltagsgegenstände aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, mit denen sich familiär tradierte Erinnerungsgeschichten verbinden. Gegenstände - vom Tornister bis zur Teetasse -, die jenseits der großen politischen und militärischen Ereignisse der Jahre 1914 bis 1918 Schlaglichter werfen auf das alltägliche Leben an der Kriegs- und an der "Heimat-Front".

Singhs Erwartungen wurden nicht enttäuscht: Über 60 SZ-Leser reagierten auf den Aufruf, was durchaus überrascht, zeigt es doch, dass der Zweite Weltkrieg in der kollektiven Erinnerung die Ereignisse des Ersten noch nicht gänzlich überformt hat. Rund 30 Objekte haben es in die Ausstellung "Jedermannskrieg" geschafft, die gestern - pünktlich zum anvisierten Zeitpunkt - in Dudweiler eröffnet wurde: Die Bandbreite reicht von Front-Tagebüchern über Schmuckstücke bis zu einer Granatenhülse aus Messing. Hinter allen Exponaten verbergen sich Geschichten von Leid und Langeweile, von Liebe und Leidenschaft, kurz: vom Leben im Krieg - mit all seinen brutalen und banalen Seiten. Diese Geschichten herauszukitzeln und literarisch zu verarbeiten war Aufgabe der Saarbrücker Autorin Nelia Dorscheid. Sie traf sich mit Leihgebern, stieg auf Dachböden und in Keller hinab, hörte zu und ließ sich zu kleinen Texten inspirieren, die die Exponate jeweils in einen historischen und erzählerischen Kontext setzen. Oft sei es nicht das vordergründig Spektakuläre gewesen, das sie berührt habe, sagt Dorscheid, vielmehr die "Geschichte hinter der Geschichte". So wählte die Autorin zum Beispiel aus dem reichhaltigen Nachlass eines vieldekorierten Generalmajors ausgerechnet einen kurzen unscheinbaren Brief aus, in dem sich Paul von Hindenburg mit staatstragender Geste bei Heidborns Frau Helene (einer geborenen Röchling) für ein Weihnachtsgeschenk bedankt - einige Flaschen Wein. Das Schreiben ist datiert auf den 28. Dezember 1915: "Generalmajor Hermann Heidborn feilt vielleicht schon an der Tagesparole ‚Prosit Neujahr!' oder erlaubt sich, an seine Kinder zu denken; die Ypern-Schlacht liegt hinter ihm, Anfang des Jahres haben seine Truppen den (…) Hartmannsweilerkopf erobert", schreibt Dorscheid in "Gnädige Frau".

Jedes Objekt, jeder Text vergegenwärtigt andere Biografien, einzig die alles überlagernde Erfahrung des Krieges verbindet sie. Düster blicken die Soldaten auf einer Feldzug-"Erinnerungsfotografie" in die Kamera - "Angst" greift die Gefühle des Mädchens beim Anblick des in schwerem Holz gerahmten, im Elternhaus drapierten Bildes auf. Wohl genährt und gut gelaunt dagegen strahlt uns der blonde Willi mit seinem Hündchen Butzi im Propaganda-Bilderbuch "Willis Kampf gegen fremde Soldaten und Völker" entgegen. Der berührenden Begleitgeschichte entnehmen wir, dass das Exemplar einem kleinen schwer kranken Jungen gehörte, der darin noch im Sterbebett blätterte. Vermutlich. Ganz genau wissen wir es nicht. Dorscheid erzählt Geschichten, die auf erzählten Geschichten basieren. Es sind literarische Miniaturen von poetischer Kraft, angesiedelt im Schwelleraum von Fakten und Fiktion, deren Reiz gerade im Spekulativen, Assoziativen, an einen möglichen Wahrheitskern Herantastenden liegt. Und die verdeutlichen, dass jede Historiografie, auch die wissenschaftliche, letztlich eine Konstruktion von Geschichte ist. In der Ausstellung schmelzen Texte und Objekte wunderbar zu einer Einheit zusammen, werfen jeweils Fragen auf, bieten Antworten an, verweisen aufeinander:

Warum posieren der junge Soldat Matthias Anton und seine Kameraden auf der Frontpostkarte in Fastnachts-Kostümierung? Was hat es mit der Spielzeug-Eisenbahn aus Zigarrenkisten des Regierungsbaurats Georg Theiß auf sich? Welche Bedeutung hatte wohl die dicke Kladde gesammelter Zeitungsartikel für den kleinen August Sauder, der als jüngster von acht Brüdern den Krieg von Zuhause mitverfolgte? Warum hütete der Bexbacher Küster Jakob Karg die Glasflasche mit dem Miniaturkreuzweg, die ein Kriegsgefangener ihm als Dank für ein Brot schenkte, wie einen Schatz? Und was hat ein Bild von Kaiser Wilhelm II. auf dem Hochzeits-Kaffee-Service eines jungen Ehepaars zu suchen?

Dem Literaturarchiv ist eine kleine, feine Ausstellung gelungen, die gerade im Kontrast zu den ritualisierten Staatsakten und pompösen Großereignissen des Gedenkjahres ihre Wirkung entfaltet. Sie macht erfahrbar, wie der Erste Weltkrieg Lebenswege prägte - nicht nur die der Soldaten. Die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" war ein "Jedermannskrieg".

Läuft bis 3. März 2015 im Ausstellungsraum des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsass in Dudweiler (Beethovenstr. Zeile 6). Öffnungszeiten: Mittwochs neun bis 12 Uhr und 13 bis 16 Uhr, sowie nach Vereinbarung.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort