Das vermeintliche „Hetz- und Lügenmachwerk“

1960 drehte der Saarbrücker Regisseur Wolfgang Staudte den Film „Kirmes“: Götz George spielt einen Deserteur der Wehrmacht, der 1944 in seinem Heimatdorf Zuflucht sucht – und vom Dorf verstoßen wird, mit tödlichem Ausgang. Der Film läuft heute Abend in Zusammenarbeit mit der Saarbrücker Staudte-Gesellschaft. SZ-Redakteur Tobias Kessler hat mit Andreas Lenhardt gesprochen, Vorstandsmitglied der Gesellschaft.

Wie kontrovers wurde der Film damals, 1960, aufgenommen?

Lenhard: "Kirmes" spaltete. Die dezenteren der ablehnenden Kritiker argumentierten mit formalen Schwächen, was bei einem politischen Film ja immer naheliegt, wenn man über das Thema nicht reden will - obwohl Staudte natürlich gerade eine Diskussion über Inhalte provozieren wollte in dieser lähmend-frostigen Zeit kurz vor dem Bau der Berliner Mauer. Er stellt die Frage nach der Rehabilitation der Wehrmachtsdeserteure, was letztlich nur auf Kosten des Mythos von der vermeintlich sauberen Wehrmacht hätte geschehen können. Und er spickt mehrere Szenen mit Sarkasmen gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands. Die "Süddeutsche" hob den Film auf eine Stufe mit Bernhard Wickis "Die Brücke".

Hatte der Film Erfolg beim Publikum?

Lenhard: "Kirmes" lief schlecht, trotz der kontroversen Diskussion in den Medien. Es gab sogar einen Boykottaufruf und von ganz rechts her die Aufforderung, die Verbreitung dieses "Hetz- und Lügenmachwerks" mit rechtlichen Mitteln zu verhindern. Es gab Leute, die sich beleidigt fühlten. Auch hob man hervor, dass Staudte als Mensch suspekt war, weil er vorher in der DDR Filme gedreht hatte. Dann geschah etwas sehr Befremdliches: Noch vor Beendigung der Kinoauswertung wurde der Film als Überraschungsfilm im Weihnachtsprogramm des DDR-Fernsehens ausgestrahlt. Wie das geschehen konnte, ist ungeklärt. Jedenfalls nutzten etliche Kinobetreiber diese Gelegenheit, zum Schaden des Verleihs, aus bereits abgeschlossenen Aufführungsverträgen auszusteigen.

Die Filmbewertungstelle hat "Kirmes" ein Prädikat verweigert.

Lenhard: Ja, mit mit der Begründung, die Darstellung sei unglaubwürdig und menschenverachtend. Der Film behaupte ja, dass die Bewohner des Dorfs aus ihrer Erfahrung der Diktatur und des Krieges nichts gelernt hätten. Nach Staudtes Widerspruch erhielt der Film dann doch das Prädikat "wertvoll", abgeschwächt durch den Hinweis auf Details, die als "tendenziöse Absicht" missverstanden werden könnten.

War die Rezeption im Ausland besser?

Lenhard: Staudte sagte, dass er die Aufführungen in mehreren skandinavischen Ländern als Prestigeerfolg für Deutschland erlebt habe. Sie hätten vertrauensbildend gewirkt.

Wie ordnen Sie "Kirmes" im Gesamtwerk Staudtes ein?

Lenhard: "Kirmes" gehört zu jenen Filmen, die Staudte sich geschworen hatte, machen zu müssen als politisch verantwortlicher Künstler. Ich halte ihn für seinen persönlichsten Film, der Einblick gibt in Staudtes alarmierten Zustand anlässlich der restaurativen Tendenzen in der jungen Bundesrepublik - aber auch in seine Traurigkeit über die Schwäche der Menschen. Die will er nicht anklagen, aber den Krieg, in dem er den einzelnen Menschen moralisch überfordert sieht.

"Kirmes" läuft heute um 17 Uhr im Filmhaus. Um 20 Uhr beginnt im Domicil Leidinger eine Diskussion zum Thema "Soldaten zwischen Pflicht und Widerstand", unter anderem mit Regisseur Jo Baier ("Stauffenberg").

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