„Will man etwas fangen, muss man es zuerst loslassen“

Der emeritierte Freiburger Sinologe Harro von Senger beschäftigt sich mit der in Europa kaum bekannten chinesischen Kunst der List. In seinem Buch „Die Klaviatur der 36 Strategeme“ erläutert Senger die wichtigste Sammlung von in China gebräuchlichen List-Techniken – und bleibt dabei doch erstaunlich oberflächlich.

Harro von Sengers Buch "Die Klaviatur der 36 Strategeme" beansprucht, uns Westler (ob nun als Geschäftsleute, Politiker oder Reisende) vertraut zu machen mit jenem produktiven "Denken in Gegensätzen", das die chinesische Kultur seit Jahrtausenden prägt und im besten Falle dort zu Weisheit führt. Eine mit dem Yin-Yang-Symbol verbundene Denkart, die der Schriftsteller Lin Yutang (1895-1976) "die auffallendste Eigenschaft des chinesischen Volkes" nannte.

Argumente nicht zeitgemäß

Um es vorwegzunehmen: Der emeritierte Freiburger Sinologe, der seit nahezu 30 Jahren auf der "Yin-Yang-Optik" herumreitet, scheitert - welch unfreiwillige Ironie! - an der Schwarzweißhaftigkeit seines eigenen methodischen Ansatzes. Von Senger tut so, als würden Europäer - anders als die Chinesen mit ihrem ausgeprägten "Strategembewusstsein" - weder weit reichende Planungen noch unorthodoxe Problemlösungen kennen. Sein Argumentationsmodell basiert auf einem Gegensatz, der in dieser Schärfe nicht mehr zeitgemäß ist. Zwar hat von Senger nicht Unrecht, wenn er mit Blick auf die Denkmuster der Aufklärung eine Eindeutigkeitsfixierung ausmacht. Das Licht der Erkenntnis sollte keine dunklen Flecken übrig lassen. Nur: Was damals galt, lässt sich heute längst nicht mehr absolut setzen. Dass die Chinesen ihr Sowohl-als-auch-Denken perfektioniert und daraus viel hinterlistiges Kapital geschlagen haben, das mag schon sein. Aber dass umgekehrt das Sinnen und Trachten des typischen Europäers noch heute ausschließlich Entweder-Oder-Direktiven folgt, ist denn doch zu einfach.

Immer wieder rutscht das Buch in Kontrastierungen ab, die aufgrund ihrer beständigen Wiederholung ärgerlich sind und dessen interessantere Teile leider in den Hintergrund treten lassen. Ist doch von Sengers Chrashkurs in Sachen Yin-Yang-Optik nicht ohne Reiz, sofern man von den 36 Strategemen noch nie etwas gehört hat. Sie gehen letztlich auf ein vor 500 Jahren erschienenes "Buch der Kriegskunst " zurück und genießen Senger zufolge bis heute in China eine überragende Bedeutung. Jede der 36 Weisheiten - beispielsweise: "Ausgeruht den erschöpften Feind erwarten" (Nr. 4); "Will man etwas fangen, muss man es zuerst loslassen" (Nr. 16); "Verrücktheit mimen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren" (Nr. 27) - wird im letzten Buchteil breit illustriert.

Wer bis zum Schluss des Buchs durchgehalten hat - die vorangegangenen Kapitel der "Vertiefung" und "Veranschaulichung" kranken an ihrer Redundanz -, dem wird die chinesische Form der Listigkeit, ob nun in Gestalt von Hinhaltemanövern oder Ködern, von Provokationen oder Vereitelungen - am Ende geläufiger sein. Auch wird man besser verstehen, wieso die chinesische Kommunistische Partei "100-Jahresziele" formuliert. Dass dies hierzulande eine Partei täte und zur Richtschnur ihres Handelns machte, ist auch heute noch schlicht undenkbar.

Harro von Senger: Die Klaviatur der 36 Strategeme. In Gegensätzen denken lernen. Hanser, 304 Seiten, 24, 90 Euro.

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