„Richter können sich alles leisten““

Der frühere CDU-Arbeitsminister Norbert Blüm rechnet in seinem neuen Buch mit der deutschen Justiz ab: Richter agierten willkürlich, Gutachter seien ahnungslos. Vor dem saarländischen Ex-Staatsanwalt David Jungbluth, der vor wenigen Monaten Missstände öffentlich gemacht hatte, habe er größten Respekt. SZ-Mitarbeiter Marcus Kloeckner hat mit Blüm gesprochen.

Herr Blüm, in der Vorstellung ihres aktuellen Buches heißt es, dass Sie eine Polemik verfasst haben, die "aufrütteln und dem Recht wieder zum Recht verhelfen soll". Findet Recht im Justizsystem Ihrer Meinung nach kein Gehör?

Blüm: Sagen wir es so: Es findet nicht ausreichend Gehör. Ich bin aus allen Wolken gefallen, als ich aus nächster Nähe meines Bekanntenkreises hautnah erfuhr, wie es vor Gerichten zugeht. Von Würde eines unabhängigen Verfahrens ist in vielen Fällen nichts mehr zu sehen. Richter interessieren sich wenig für Wahrheit, jedenfalls vor den Familiengerichten so gut wie nie. Demoralisierung der Rechtsfindung ist dort am weitesten fortgeschritten. Das liegt allerdings auch am modernen Familienrecht, welches das Recht der dauerhaften Bindung völlig aus dem Auge verloren hat. Scheidung wird zur Normalität.

Worin genau liegen die Probleme?

Blüm: Das Problem liegt darin, dass alles erlaubt ist, was nicht verboten ist, wie der Vizepräsident der Bundesrechtsanwaltskammer Michael Krenzler behauptet. Das ist die Proklamation der Dekadenz der Rechtspflege , die sich von ethischen Pflichten emanzipiert hat. Der Mann ist Vorsitzender der Ethikkommission der Rechtsanwaltskammer. Wer den Bock zum Gärtner macht, darf sich nicht wundern, selbst für einen Bock gehalten zu werden.

Welche sind die strukturellen Probleme im Justizsystem?

Blüm: Richter können sich leisten, was sie wollen. Eher trifft ein Blitz den Menschen, als dass ein Richter wegen Rechtsbeugung entlassen wird. Unabhängigkeit wird als Recht auf Intransparenz verstanden. Gutachter, die keine Ahnung haben, bewerten Schicksalsfragen. Ein Gutachter, der beim TÜV ein rostiges Auto begutachtet, hat höhere Qualitätsanforderungen als Gutachter, die über das Sorgerecht für Kinder Bewertungen abgeben. Die anständigen Richter und Anwälte müssen den Aufstand gegen den Sittenverfall proben. Die Justizminister müssen ihre Amtsbezeichnung ernst nehmen. Und die Öffentlichkeit darf sich nicht alles gefallen lassen.

Im Hinblick auf ihre Auseinandersetzung mit dem Rechtssystem: Wie denken Sie über den Fall David Jungbluth, der hier an der Saar für einigen Wirbel gesorgt hat?

Blüm: Ich habe großen Respekt vor David Jungbluth. Endlich durchbricht ein Insider das Schweigekartell der Justiz. Verfahren am Fließband, eine Quote, welche die Prozentzahl der Fälle angibt, die zur Anklage gelangen, Vergleiche aus Rationalisierungsgründen: Das alles sind Schläge ins Gesicht der Justitia. Ohne Vertrauen in Gerechtigkeit gibt es keinen Rechtsstaat.

Was sollte getan werden, um den Problemen entgegenzutreten?

Blüm: Ich bin für eine fundamentale Diskussion über die Zustände der Rechtspflege . Sie ist zum Biotop verkommen, in dessen versifftem Gestrüpp der Normalsterbliche nicht durchkommt. Transparenz ist der erste Weg zur Besserung. Unabhängigkeit ist kein Alibi für Rechtfertigungsfreiheit. Richter und Anwälte müssen sich fragen lassen, ob ihnen egal ist, was sie repräsentieren. Der Fischt stinkt vom Kopf.

Norbert Blüm : Einspruch! Wider die Willkür an deutschen Gerichten. Eine Polemik. Westend Verlag, 256 Seiten, 19,99 Euro.

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