Auf der B-Seite des Daseins

„Gestalt des letzten Ufers“ ist Michel Houellebecqs fünfter Lyrikband – und sein düsterstes, gleichzeitig intimstes Buch: Es geht fast ausschließlich um den Schriftsteller selbst.

Ist über Fankreise hinaus eigentlich bekannt, dass Michel Houellebecq mindestens so sehr Lyriker wie Romancier ist? Preisgekrönte Romane wie "Elementarteilchen" oder "Die Möglichkeit einer Insel" lösten hitzige Debatten aus und machten den Franzosen zum Star, doch seine ersten Bücher waren Gedichtbände. Auch sie wurden mit namhaften Auszeichnungen bedacht.

"Gestalt des letzten Ufers" ist Houellebecqs fünfter Lyrikband - und sein düsterstes, gleichzeitig intimstes Buch. Die Romane greifen als negative Utopien mit Science-fiction-Elementen in die Zukunft, um der Gegenwart den Spiegel der in ihr angelegten unheilvollen Möglichkeiten vorzuhalten - ein legitimes literarisches Mittel, wobei die fiktionalen Elemente immer auch ein gewisses Flair des Unwirklichen, bloß Erdachten verströmen.

In seinem Gedichtband aber hat Houellebecq jedweder Fiktion und, anders als etwa noch in dem Band "Die Welt als Supermarkt", gleich auch noch jeder gesellschaftlichen Reflexion entsagt. Hier geht es fast ausschließlich um ihn selbst: die eigene unstete, schüttere und streckenweise verzweifelte Existenz. Kennzeichnend für den Band ist eine an Selbstentblößung grenzende Offenheit. Wir erfahren Details aus seinem Leben bis hin zum Medikamentenkonsum, ja, bis zur Dosierung der Arzneien.

Wenn das Buch Bilder der Condition humaine zeichnet, so gebrochen durchs Prisma radikaler, geradezu bekenntnishafter Individualität. Jegliche Attitüde entfällt, lyrisches und biografisches Ich werden gleichsam deckungsgleich. Allenfalls ein Moment von Stilisierung ist im Spiel - in der wunderbar klaren, kunstvoll einfachen Sprache, was die vorzügliche Übersetzung von Stephan Kleiner und Hinrich Schmidt-Henkel noch dadurch unterstreicht, dass sie auf den Reim der Gedichte verzichtet.

Die Stimmungslage der Gedichte ist: Moll; Kapitelüberschriften wie "Die Gefilde der Leere" schlagen den Ton an. "Das Leben ist eine Grabstätte", lesen wir, und spielt sich auf der "B-Seite des Daseins" ab. "Ich bin im Begriff zu krepieren, das ist alles." Doch auch wenn die Welt "radikal schwarz" ist - es gibt noch Entwicklung, Momente der Aufhellung auch, sogar des Einklangs des Ichs mit sich und der Welt. "Gegen elf Uhr habe ich einige Minuten des Einvernehmens mit der Natur erfahren". Selbst Glück ist möglich. Ein nicht unbeträchtlicher Teil des Buches sind Liebesgedichte - Verse von wunderbarer Schlichtheit und Direktheit. Die Frau: ein "Glücksversprechen auf zwei Beinen", "nicht-göttliche Wesenheit/ Zärtlichkeitstier".

Im Schlusskapitel, "plateau" betitelt, ändert sich schließlich die Perspektive. Der schonungslosen Innenschau treten jetzt Beobachtungen der äußeren Welt, auch Reflexionen allgemeinerer Art zur Seite. Der Leser wertet dies hoffnungsfroh als Indiz dafür, dass der Autor, dass Michel Houellebecq ein Stück weit die innere Balance wieder gefunden hat.

Michel Houellebecq : Gestalt des letzten Ufers. Gedichte . Französisch-Deutsch. Übertragen von Stephan Kleiner und Hinrich Schmidt-Henkel, Dumont Verlag, 175 Seiten, 18 Euro.

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