Schuld und Bühne

Die britische Autorin Sadie Jones erzählt in ihrem romantischen Roman „Jahre wie diese“ von vier jungen Menschen und ihrem Leben im turbulenten London der 1970er-Jahre. Sie lieben sich, streiten sich und frönen ihrer Passion, dem Theaterspielen.

Die Rocksäume der Mädchen bewegten sich immer mehr vom Knie aufwärts. Die Haare der Jungs wurden immer länger. In den Parks hockten die Teenager um die laut aufgedrehten Radios. Die Atmosphäre war aufgeladen im London der frühen 70er, wo die geordneten Elternwelten durcheinander gerieten, weil die nächste Generation ihre rebellische Befriedigung suchte. Die Pendler lasen in vollen Zügen von den Ausschweifungen in einer wackren neuen Welt. Dann holte das Musical "Hair" auch sie vom Fernseher weg, weil alle vor Ort sehen wollten, dass und wie die Hüllen fielen. Theater machte Schlagzeilen und die Zügel wurden immer mehr gelockert.

Luke Kanowski hat von all dem gehört. Nur hockt er in der Provinz, wo alles bloß als Echo ankommt. Sein Kapital ist eine exzessive Energie, mit der er liest, die Schule schmeißt und abends im Kaff-Club wenigstens ein bisschen von der neuen Zeit inhaliert, um die Stigmatisierungen seiner Migrantenherkunft abzuschütteln, "den Kopf voller wirbelnder Gedanken". Die Mutter ist in der Psychiatrie, der Vater besucht sie nicht, weil er rund um die Uhr betrunken ist. Luke hat das Herz am rechten Fleck und viel Talente. Als ihn eines Nachts im regnerischen Lincolnshire-Abseits Leigh nach dem Weg fragt, erkennt er die Chance und folgt ihr und Paul nach London . . .

Auch in ihrem vierten Roman erzählt die Britin Sadie Jones aus der jüngeren Geschichte ihres Landes. 2008 avancierte sie zum Publikumsliebling mit ihrem Debüt "Der Außenseiter". In "Kleine Kriege" schilderte sie vom englischen Kolonialanspruch der 50er-Jahre zerrüttete Seelen, in "Der ungeladene Gast" fand sie ungewöhnliche Bilder für das Erodieren des ländlich Bürgerlichen am Beginn des 20. Jahrhunderts. Und nun macht sie einen Trip ins turbulente London in seinen vielleicht besten Jahren.

Sadie Jones kann punktgenau ihre pointierten Sätze reihen. Zum Finale rückt sie mit Luke, Leigh, Paul und Nina gleich vier höchst sympathische Figuren ins Zentrum. Alle sind sie erst Mitte 20. Zwischen Fremdbestimmung und Selbstentfaltung frönen sie ihrer Passion für die Bretter, die die Welt bedeuten. Sie arbeiten mit- oder gegeneinander, haben Erfolg oder nicht, stehen an Tresen oder liegen in wechselnden Konstellationen in den Betten. Sie stemmen sich gegen Seifenopern und das Establishment. Sie sind theatralisch aufgedreht dabei oder zu Tode betrübt. Leidenschaft schafft Leiden. Mal sind sie so zerfleddert wie ihre Manuskripte, mal berauscht vom Glück des Gelingens und immer gierig nach Leben.

Weil Sadie Jones für alle ein großes Herz hat, läuft ihr die Erzählökonomie mitunter aus dem Ruder. Doch folgt man ihr als Leser trotzdem überall hin, weil sie mit Tempo und zugeneigtem Witz eine bewegte Zeit heraufbeschwört bis hin zum unverhofften Happy End.

Sadie Jones: Jahre wie diese. Aus dem Engl. von Brigitte Walitzek. DVA, 414 S., 19,99 Euro.

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