Adliger, Dichter und Antisemit

Die Publizistin und Ex-Grünen-Chefin Jutta Ditfurth – ehemals von Ditfurth – hat eine „Reise in die Familiengeschichte“ unternommen. Herausgekommen ist eine 400-seitige, schonungslose Abrechnung mit dem Adel. Der Literaturwissenschaftler und emeritierte Saarbrücker Germanistik-Professor Gerhard Sauder hat das Werk für uns kritisch gelesen.

Jutta Ditfurth - bis 1978 "von" - hat nach dem Fall der Mauer mit ihrer Mutter die DDR, ein für sie fremdes Land, bereist. Es war eine Fahrt in die adlige Familiengeschichte . Die verzweigte Verwandtschaft des adligen Familienverbands wurde zum Gegenstand einer kritischen Darstellung. Sie las die Lebenserinnerungen ihrer Urgroßmutter Gertrud von Beust (1850 - 1936) und musste feststellen, dass es darin von antisemitischen Äußerungen wimmelt. Mit Exkursen über Luthers Schmähschriften gegen die Juden und den "adligen Antisemitismus in der Romantik" versucht Ditfurth zu erklären, woher die urgroßmütterliche Aversion kam. Achim von Arnim, mit dem sie mütterlicherseits weitläufig verwandt ist, wird als Gründer der "Deutschen Tischgesellschaft" in Berlin als antisemitischer Ideologe vorgestellt - es wäre jedoch angemessen gewesen, diese antisemitische Phase Arnims im Kontext seines Gesamtwerks zu sehen; es handelte sich um eine Entgleisung des Dichters. der Jahre zuvor mit Brentano "Des Knaben Wunderhorn" herausgegeben hatte.Der Großteil des Buches ist jedoch dem Urgroßonkel der Autorin, dem Balladendichter Börries von Münchhausen, gewidmet. In der frühen Jugendbewegung wurden seine Texte "Jenseits des Tales standen ihre Zelte" oder "Die Glocken stürmten vom Bernwardsturm" gesungen. In der Familie galt Börries als heiterer, geselliger Onkel - bis der Autorin ein Brief von ihm in die Hände fiel: Darin schrieb der Urgroßonkel gehässig über Juden . "Das war der Faden, an dem ich zog."

Börries von Münchhausen wurde am 20. März 1874 in Hildesheim geboren. Als Kind lebte er auf den Gütern der Familie bei Göttingen und Hannover. Als Gymnasiast schrieb er Gedichte und Balladen. Ein jüdischer Mitschüler nahm ihn öfter in die neue Synagoge in Hannover mit. Börries war zunächst Anhänger des Zionismus. Seit 1895 studierte er in Heidelberg Rechts- und Staatswissenschaften, 1897 promovierte er in Göttingen. Danach schrieb er sich in Berlin für Philosophie und Literaturgeschichte ein. Er wollte Schriftsteller werden. 1897 erschien ein erster Gedichtband. Sein Thema war das Mittelalter, die Edda und die Ritterideale. Der Baron bekämpfte die Literatur der Moderne, wurde früh zu einem deutschnationalen Konservativen.

Seine Freundschaft mit dem zionistischen Jugendstilkünstler Ephraim Moses Lilien führte zu einer Sammlung jüdischer Balladen in dem gemeinsamen Buch "Juda" (1900). Der junge Zionist Martin Buber schrieb die erste lobende Rezension. Lilien etablierte sich damit als jüdischer Künstler. Börries pries das stolze und aristokratische Judentum seiner alttestamentlichen Helden - sie stellten den ältesten Adel der Welt dar. 1902 heiratete Münchhausen die Witwe Anna von Breitenbuch, die durch ihre erste Ehe vermögend geworden war. Mit ihren zwei Rittergütern ermöglichte sie ihm eine sorgenfreie Lebensführung. 1904 wurde der Sohn Börries' geboren. 1911 erschien das Buch "Das Herz im Harnisch". Nicht zuletzt dank der modisch gewordenen Dichterlesungen wurde es ein Erfolg. Münchhausen begann, sich von "Juda" zu distanzieren und den im Kleinadel verbreiteten Antisemitismus zu pflegen: "Es ist eine fürchterliche Rasse." Bei Kriegsausbruch meldete er sich freiwillig und kämpfte in Ostpreußen und Polen - von den fast täglichen Reiterkämpfen dort schwärmte er: welch ein "wildes herrliches Leben". 1916 wurde er in die militärische Stelle des Auswärtigen Amts in Berlin berufen. Er reiste an alle Kriegsschauplätze und mehrte seinen Ruhm als Autor bei der Truppenbetreuung und als Kriegspropagandist.

In dem zentralen zehnten Kapitel belegt Ditfurth ihre These mit Briefen ihrer Urgroßmutter Gertrud von Raven-Beust an 24 Verwandte. Darin trete ein gegenüber der Weimarer Republik und den Juden feindlich eingestelltes Denken zutage, das für den Adel der Zeit insgesamt charakteristisch sei. Bei den "aggressiven rechtsradikalen Republikfeindinnen" war der "Antisemitismus Religion". Den völkischen Fraktionen der Adligen ging es um konsequente "Rein-haltung des Blutes". Nur ein Verwandter unter Hunderten sei zu finden gewesen, der diese Einstellung nicht teilte: Karl Freiherr von Brandenstein.

In den 20ern profilierte sich Münchhausen als "Rassen"-Ideologe. In einem Aufsatz stellte er 1924 den "Gedanken der Menschenzüchtung in den Mittelpunkt des Adelsbegriffes". Von 1926 bis 1933 spielte er eine fragwürdige Rolle bei der "Säuberung" der Preußischen Akademie der Künste in Berlin. Auch hier ging es ihm vor allem darum, die "Fremdrassigen" wie Döblin auszuschließen und die Institution dem Nationalsozialismus auszuliefern. Sein Plan, auf der Wartburg eine "Gegenakademie" zu gründen, scheiterte. Er hatte Kontakt zu nahezu allen einflussreichen Nationalsozialisten. Er schmeichelte der NS-Führung und behauptete doch - etwa 1937 in einem Brief an Thomas Mann - kein Nationalsozialist und kein Antisemit zu sein. In seiner überarbeiteten Autobiografie aber betonte er seine grundsätzliche Ablehnung des Judentums, wofür mehrere Schriften zeugten. Hitler setzte ihn 1944 auf seine "Gottbegnadeten-Liste" der für das Regime wichtigen Autoren. Gegen Kriegsende wollte er als unpolitischer, christlicher Dichter gelten. Im Januar 1945 starb seine Frau, im März nahm er sich mit Schlaftabletten das Leben.

Jutta Ditfurth weiß, dass ihre These vom Antisemitismus fast aller Familien des Kleinadels - so auch ihres Familienverbandes - nicht verallgemeinerungsfähig ist. Sie gilt wohl für die preußischen, norddeutschen und protestantischen, nicht jedoch gleichermaßen für die westfälischen und süddeutschen katholischen Adelsfamilien. Richtig ist, dass nur eine kleine Zahl Adliger den Nationalsozialismus und die Vernichtung der Juden ablehnten. Die Darstellung ist überwiegend ideologiekritisch, biografisch und historisch orientiert. Die Urteile über Münchhausens literarische Arbeiten, die fast alle vor 1920 erschienen, bleiben an der Oberfläche. Eine Analyse des meist epigonalen Werkes wäre geboten.

Jutta Ditfurth : Der Baron, die Juden und die Nazis. Reise in eine Familiengeschichte . Hoffmann und Campe . 396 S. 21,99 Euro.

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