Das Rätsel der verlassenen Dörfer

Jambol · Vor rund 6500 Jahren markierte das heutige Bulgarien in wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht das Zentrum Europas. Doch die Menschen verlassen ihre Dörfer nach und nach – für Wissenschaftler ein Rätsel.

 Der Denker von Drama: Diese vier Zentimeter große Tonfigur ist rund 6500 Jahre alt. Sie wurde bei Ausgrabungen eines kupferzeitlichen Dorfes im Südosten Bulgariens entdeckt. Foto: uds

Der Denker von Drama: Diese vier Zentimeter große Tonfigur ist rund 6500 Jahre alt. Sie wurde bei Ausgrabungen eines kupferzeitlichen Dorfes im Südosten Bulgariens entdeckt. Foto: uds

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Rauchende Ruinen - das ist alles, was von dem Dorf übrig blieb. Die Angreifer kamen aus dem Nichts. Brandpfeile flogen in die Siedlung, die aus Lehm und Holz gebauten Häuser fingen sofort Feuer. Als sich der Rauch verzog, waren die Angreifer längst zum nächsten Dorf weitergezogen. So oder so ähnlich stellten sich viele Archäologen lange Zeit das Ende der Kupferzeit im heutigen Südostbulgarien vor. Marodierende Horden, die aus den weiten Steppengebieten Russlands aufgebrochen waren, um die blühenden Landschaften des Balkan zu erobern - ganz so, wie es Jahrtausende später die Hunnen gemacht haben oder noch ein bisschen später Dschingis Khan .

"Aus heutiger Sicht gibt es für diese Theorie keinerlei Beweise", so Ralf Gleser, Professor am Urgeschichtlichen Seminar der Universität Münster. Seit 30 Jahren ist der gebürtige Saarländer an einem Forschungsprojekt der Universität des Saarlandes beteiligt. Zwischen 1983 und 2002 haben die Forscher vom Institut für Vor- und Frühgeschichte ein kupferzeitliches Dorf in der Nähe des heutigen Ortes Drama ausgegraben - seitdem läuft die Auswertung.

"Die Kupferzeit beginnt sowohl auf dem Balkan als auch in Mitteleuropa um etwa 4600 vor Christus", erklärt der Archäologe. "Es ist eine Phase, in der die Menschen beginnen, ihr Leben besser zu organisieren." Neue Wirtschaftszweige tauchen auf, etwa der Bergbau und damit verbunden auch die Metallproduktion. "Um die neuen Waren auszutauschen, schuf man ein überregionales Handelsnetz." Dass verkehrsgünstig gelegene Regionen davon besonders profitierten, zeigt sich im Osten Bulgariens - quasi an der Schnittstelle von Asien und Europa . "Hier entwickeln sich in der Kupferzeit besonders viele und besonders reiche Siedlungen", so Gleser.

Die Dorfruinen selbst, das zeigen Ausgrabungen immer wieder, zeugen von dem hohen kulturellen Entwicklungsstand der damaligen Bevölkerung. Clever konstruierte Häuser mit Keller, Erd- und Obergeschoss, aufwändig verzierte Tongefäße und komplexe Tier- und Menschenfiguren aus Knochen oder Ton sind quasi Standard, den Archäologen in jeder Siedlung entdecken. Die Dörfer waren zumeist klar strukturiert, mit rechtwinklig angeordneten Häusern, umgrenzt von einem Zaun oder einem Graben.

"Auch Gegenstände aus seltenen Materialien waren in Gebrauch", so Gleser. Meeresmuscheln zeugen von den Handelsbeziehungen , die über hunderte Kilometer hinweg reichten. Hinzu kommt Gold: "Aus Bulgarien sind uns die ältesten Goldgegenstände überliefert, die die Menschheit überhaupt herstellte." Mit den spärlichen Hinterlassenschaften menschlichen Lebens, die Archäologen in Mitteleuropa aus dieser Epoche finden, sei das kupferzeitliche Bulgarien nicht zu vergleichen. "Da können sogar Ägypten und der Vordere Orient nicht mithalten."

Doch das pralle kupferzeitliche Leben verschwindet am Ende des fünften Jahrtausends. "Auch das Leben im Dorf von Drama endet ungefähr um 4200 vor Christus", erklärt Gleser. Die Menschen verlagern ihre Dörfer an andere Stellen, die Zahl der Siedlungen geht deutlich zurück, viele Sitten wie etwa die typische Gefäßornamentik verschwinden. "Wir müssen mit einer deutlich veränderten Lebensweise rechnen."

Doch warum? "Eigentlich können wir nur mutmaßen." Der Experte hält wenig von radikalen Theorien wie etwa der einer Auswanderung der Bevölkerung. "Wenn die Menschen ausgewandert wären, müssten wir irgendwo anders einen Bevölkerungszuwachs nachweisen können. Das ist nicht der Fall." Auch das eingangs geschilderte Szenario einer Invasion - lange Zeit die beliebteste Theorie - hält er für falsch. "Wir finden in keiner einzigen kupferzeitlichen Siedlung Spuren kriegerischer Handlungen." Zwar seien viele der Dörfer abgebrannt, für einen Angriff spreche das aber längst nicht. Waffen finde man in den Ruinen keine, exotische Artefakte, die eine Anwesenheit von Fremden belegen könnten, auch nicht. "Ein gewaltsames Ende der kupferzeitlichen Zivilisation können wir ausschließen", so das Fazit Glesers. Plausibel sei hingegen eine relativ neue Theorie, die auf naturwissenschaftlichen Auswertungen des prähistorischen Klimas beruht. "Wir können auf dem Balkan einen Klimawandel an der Schwelle zum vierten Jahrtausends nachweisen. Das Wetter wird trockener und durchschnittlich etwa zwei Grad kühler." Als alleinige Ursache für den umfassenden Kulturwandel könne das Klima jedoch kaum dienen. "Es könnte aber das Zünglein an der Waage einer womöglich ohnehin schon wirtschaftlich geschwächten Gesellschaft gewesen sein."

 Bei den Ausgrabungen in der Nähe des bulgarischen Dörfchens Drama halfen auch viele Einwohner mit. Foto: UdS

Bei den Ausgrabungen in der Nähe des bulgarischen Dörfchens Drama halfen auch viele Einwohner mit. Foto: UdS

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HintergrundSteinzeit, Kupferzeit, Bronzezeit und Eisenzeit: In diese vier Perioden untergliedern europäische Archäologen die Vorgeschichte, den Teil der Geschichte also, in dem der Mensch noch keine schriftlichen Quellen hinterlassen hat. Die Grenzen dieser vier Perioden werden aber unterschiedlich definiert: So beginnt nach bulgarischer Terminologie die Bronzezeit bereits um etwa 3200 vor Christus, in Deutschland erst etwa ab 2200 vor Christus. Mit den vor rund 65 Millionen Jahren ausgestorbenen Dinosauriern haben aber weder der früheste Mensch - dieser entwickelte sich vor rund 2,5 Millionen Jahren - noch Archäologen etwas zu tun. mth

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