Strategien zu mehr gefühlter Sicherheit

Saarbrücken · Ernst-Dieter Lantermann analysiert in seinem Buch „Die radikalisierte Gesellschaft“ heutige Selbstwert-Mechanismen.

 Dies dürfte die extremste vorstellbare Form der Radikalisierung sein, die einzelne, fanatisierte junge Menschen heute wählen: Kämpfer des Islamischen Staates (hier eine von 2015 datierende Aufnahme aus Raqqa/Syrien). Foto: dpa

Dies dürfte die extremste vorstellbare Form der Radikalisierung sein, die einzelne, fanatisierte junge Menschen heute wählen: Kämpfer des Islamischen Staates (hier eine von 2015 datierende Aufnahme aus Raqqa/Syrien). Foto: dpa

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Seien wir ehrlich: Irgendwie erscheint heute alles als unsicher. Ob man morgen noch seinen Job hat. Ob es den Euro noch gibt. Ob man beim nächsten Konzertbesuch Opfer eines Anschlags wird. Da nützt es wenig, wenn Statistiker einwenden, dass es wahrscheinlicher ist, vom Blitz getroffen zu werden als von einem Terroristen. Oder daran zu erinnern, dass frühere Generationen mit ganz anderen Problemen fertig werden mussten. Was zählt, ist die gefühlte Unsicherheit. Die ist extrem hoch. Und wird befeuert: von populistischen Politikern, katastrophensüchtigen Medien, Hysterie in den sozialen Netzwerken.

Psychologen aber wissen: Wer längere Zeit Unsicherheit erlebt, bekommt Probleme. Mut und Selbstwertgefühl gehen in den Keller, man fühlt sich hilflos und ausgeliefert. Zwar gibt es auch Adrenalinjunkies, die unsichere Situationen regelrecht suchen. Oder Menschen, die vor den Risiken die Chancen sehen. Aber für die meisten ist es ein quälender Zustand. Der dazu führt, dass man sich früher oder später seine eigenen Gewissheiten schafft.

Eben hier liegt für den Sozialpsychologen Ernst-Dieter Lantermann die Erklärung dafür, warum sich heute mehr Menschen radikalisieren. Ob politisch oder im Lebens- oder Ernährungsstil. Veganismus zum Beispiel spielte vor 15 Jahren kaum eine Rolle, heute soll es hierzulande schon fast eine Million Veganer geben. Warum aber ist es, um bei diesem Beispiel zu bleiben, für immer mehr Menschen attraktiv, auf Fleisch und Tierprodukte zu verzichten? Ethische oder gesundheitliche Gründe allein sind es nicht, glaubt der emeritierte Kasseler Psychologieprofessor.

Lantermann unterstellt einen psychologischen Prozess: den Versuch, in einem immer komplexeren Leben wieder Sicherheit und Überschaubarkeit zu gewinnen. Plötzlich weiß man wieder, was richtig und falsch ist, hat sogar das gute Gefühl, dazu beizutragen, die Welt besser zu machen. Man erlebt endlich wieder Sinn im Leben. Und ebenso - zusammen mit anderen Veganern - das Gefühl von Gemeinschaft. Das alles führe dazu, dass die zuvor gefühlte quälende Unsicherheit verschwindet und das Selbstwertgefühl wieder steigt, glaubt Lantermann.

Neben dem boomenden Veganismus untersucht der Psychologe noch vier weitere Felder, auf denen sich heute "selbstwertdienliche Radikalisierungsphänomene" zeigen: den Fremdenhass, die Körperoptimierung durch permanente Selbstüberwachung, den Rückzug in eine imaginierte heile Welt oder in geschlossene, bewachte Wohnkomplexe, den "Gated Communities". Ausgewählt wurden gerade diese fünf - sehr unterschiedlichen - Phänomene, um zu zeigen, dass die zugrunde liegenden psychologischen Mechanismen stets dieselben sind. Das gelingt Lantermann zwar durchaus, trotzdem mutet der Vergleich harmloser Attila-Hildmann-Fans mit Fremdenhassern, die Flüchtlingsheime anzünden, etwas bizarr an und Lantermanns Theorie an dieser Stelle reduktionistisch. Mag es auch tatsächlich fanatische Veganer geben, die Nicht-Veganer zum Beispiel als Mörder beschimpfen.

Wie aus einer bereits radikalen Haltung eine "fanatische" wird, ist einer der von Lantermann untersuchten Aspekte. Vereinfacht gesagt geht es dabei um den Unterschied zwischen einem Pegida-Demonstranten und Fanatikern wie den NSU-Terroristen, die Fremdenhass bis zum Mord auslebten. Ein anderer untersuchter Aspekt ist der der "Sicherheitsparadoxie". Denn auch wenn jede dieser Strategien zunächst ein Gefühl von Sicherheit vermittelt, Wir-Gefühle stiftet und das Selbstwertgefühl aufrichtet - dauerhaft funktionieren diese Strategien nie: Nicht von ungefähr ist hierzulande der Fremdenhass dort am größten, wo die wenigsten Migranten leben, in der ostdeutschen Provinz.

Auch wenn man sich mehr Fallbeispiele und weniger Wiederholungen wünschte: Lantermanns Buch ist wichtig - weil es zeigt, warum manche mit erlebter Unsicherheit besser zurechtkommen als andere. Schließlich gibt es viele, die ungewisse Lebenslagen als Chance begreifen, das Leben mit neuen Erfahrungen anzureichern. Auch zeigt das Buch, welche Ressourcen einzelne vor Radikalisierung schützen - aber auch die Zivilgesellschaft selbst, die Gefahr läuft, immer weiter in radikale Sub-Milieus zu zersplittern.

Ernst-Dieter Lantermann: Die radikalisierte Gesellschaft. Von der Logik des Fanatismus. Blessing, 224 S., 19,99 €.

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