Dr. Kerns Heimsonne überstrahlte dunklen Winter

Früher war alles besser. Oder doch nicht? Beim Rückblick auf die 60er, 70er, 80er und 90er Jahre werden SZ-Redakteure „nostalgisch“. Zumindest die Technik war damals schon so weit fortgeschritten, dass Kinder – von der Heimsonne bestrahlt – den Winter überstanden.

 Dr. Kerns Comtesse. Foto: Klostermann

Dr. Kerns Comtesse. Foto: Klostermann

Foto: Klostermann

Auch in den End-60er-, Anfang-70er-Jahren haben sich die Eltern kleiner Kinder um die Gesundheit ihrer heranwachsenden Erben sehr gesorgt. Vor allem in den langen Wintermonaten, die damals noch richtig eisig und voller Schnee waren, galt es, dem Vitamin-D-Mangel zu wehren. Dazu hatte unsere Mutter ein hochmodernes elektrisches Gerät gekauft, das uns jeden Freitag einen glücklichen Abend bescherte. Nach dem Wannenbad mit den beiden Schwestern - Wasser war damals noch ein teures Gut - durfte sich jedes der Kinder abwechselnd auf die kuschelige Flauschdecke legen, die auf dem Esszimmertisch ausgebreitet war. Zur Linken stand vor uns "Dr. Kerns Heimsonne Modell Comtesse", zur Rechten auf vier stolzen, schlanken Holzbeinen mit vergoldeten Messingfüßen der Graetz-Schwarzweiß-Fernseher. Während Dr. Kerns Heimsonne entweder Infrarot- oder UV-Licht verströmte und ein wunderbarer Ozonduft die Raumluft schwängerte, lief im Fernseher auf dem Zweiten "Väter der Klamotte". Köstlich kommentiert von Hanns Dieter Hüsch, trieben dort die Stummfilmhelden, von Dick und Doof über Pat und Patachon bis zu den Kleinen Strolchen ihren Schabernack. Wir Geschwister ließen uns derweil von der Heimsonne bestrahlen, genau nach Zeitvorgabe. Denn in den schlüpferblauen ovalen Geräte-Rahmen, in dem die beiden Glühstäbe staken, war im Boden auch ein Uhrwerk eingelassen. Das klackte im Sekundentakt die Minutenvorgabe herunter. Zudem waren unsere Augen durch eine futuristische Sonnenbrille vor einem zufälligen Blick in die feuerroten Glühstäbe geschützt.

Mit den beiden nachtschwarzen, nach außen gewölbten Plastikschalen über den Augen sahen wir aus wie die gefährlichen Riesen-Ameisen-Monster aus den amerikanischen B-Movies, die zwar genau zu jener Dr. Kernigen Zeit gedreht wurden - wir bekamen sie jedoch erst Jahrzehnte später in den Programmkinos oder spät abends in der Flimmerkiste zu Gesicht.

Das waren wahrlich wohlige Freitagabende, an denen die Vitamin-D-Produktion dank Dr. Kern aus der alten Uni-Stadt Göttingen angekurbelt und die Lachmuskeln dank Hanns Dieter Hüschs väterlichen Kommentaren strapaziert wurden. Heute ist Dr. Kern Heimsonnen-Fabrik nach einer Vielzahl von Besitzerwechseln im belgischen Hasselt gelandet und stellt Heimsaunen her. Meine Schwestern und ich hüten des Doktors Heimsonne Comtesse in der Originalverpackung wie unseren Augapfel. Die Erinnerung an die Kindertage im Winter sorgt weiter für ungebrochene Heiterkeit - auch ohne die Väter der Klamotte. Die Comtesse ist nach 50 Jahren noch voll funktionsfähig. Wenn wir bei den Familientreffen davorhocken, stoßen wir an auf die deutsche Wertarbeit. Prosit, Dr. Kern!

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