Eine Sensation: Roman von Walt Whitman entdeckt

Berlin · Wer je den Film "Der Club der toten Dichter" (USA 1989) sah, hat von Walt Whitman gehört. Darin spielt Robin Williams den Lehrer eines konservativen Internats, der Gedichte des Poeten zitiert und sich von seinen Schülern mit "Mein Captain!" anreden lässt. Das bezog sich auf Whitmans Gedicht "O Captain! My Captain!", in dem er dem ermordeten Präsidenten Abraham Lincoln huldigte.

Walt Whitman (1819-1892) gehörte zu den Begründern der modernen amerikanischen Literatur. Vor allem seine Lyrik wurde bejubelt, er soll seine volksverbundenen, das Amerika der Einwanderer lobenden Gedichte zeitweise wie im Drogenrausch geschrieben haben. Der große Lyriker Ezra Pound erklärte noch Jahre nach Whitmans Tod: "Er ist Amerika."

Sein berühmtestes Buch "Leaves of Gras" (1855 erstmals erschienen und bis 1891 von ihm wieder überarbeitet und erweitert) enthält über 400 Gedichte. Es handelt von der Erfahrung des grausamen Bürgerkriegs und einer rasanten Industrialisierung, die eine Heerschar von Tagelöhnern verheizte. Die "Grashalme" galten als sein Lebenswerk, doch nun ist - nach 165 Jahren - ein unbekannter Roman von ihm aufgetaucht. Es ist die Zusammenfassung von langen Artikeln, die 1852 in der Zeitung "Sunday Dispatch" veröffentlicht worden waren.

Am Beispiel der Autobiographie "Life and Adventures of Jack Engle" wird Amerika als Land der Zukunft gepriesen, die Demokratie als das Höchste benannt und die Vorzüge der multireligiösen und multikulturellen Gesellschaft, der Iren, Italiener und Deutschen, der Quäker, Katholiken und Juden werden beschrieben.

Diesen Roman, der etwa 100 Seiten umfasst, hat der Literaturwissenschaftler Zachary Turpin aus Texas restauriert. Whitman hatte nicht unter seinem Namen geschrieben, ein Verfasser wurde in der Artikelserie nicht genannt. Der Berliner Verlag "Das kulturelle Gedächtnis" wird den Roman mit dem mutmaßlichen Titel "Jack Engle" im September veröffentlichen. In den USA wird er schon diskutiert, er ist eindeutig Whitman zuzuschreiben, seiner Sprache, seinem Stil. Zudem wurden in Whitmans rotem Notizbuch seine Ideen und der Name des Helden gefunden. Dass sich der Dichter zeitlebens nicht dazu bekannte, ist dem Umstand zuzuschreiben, dass er sich als Poet sah, als ein Vertreter der höheren literarischen Kunst, nicht als Romanschreiber. Er nahm das Geheimnis mit in sein Grab.

Angelehnt an die sozialkritische Prosa von Charles Dickens schreibt Whitman über die Waise Jack Engle, die sich in New York durchschlägt. Ein Vagabund, dessen Dasein aber in das bürgerliche Leben mündet. Er heiratet eine Waise, bereichert sich an der Erbschaft der jungen Frau, kommt mit Tricks, aber auch harter Arbeit durch. Whitman war 33, als er den Text schrieb. Er schildert darin das wilde, turbulente New York und Amerika als das beste Land der Welt. Deshalb das Plädoyer für die Demokratie, die individuelle Entwicklung, die Vereinigung der Zugewanderten. Ein Buch, das in die Zeit der Trump-Ära passt. Es beschreibt in etwa das Gegenteil dessen, was der neue Präsident mit seiner massiven Abschottungs- und Ausgrenzungspolitik betreibt.

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