Frank Castorf ballt den „Faust“ zum Abschied

Berlin · Intendant verabschiedet sich nach 25 Jahren mit sieben Stunden Goethe von der Berliner Volksbühne.

 Marc Hosemann (links) als Mephisto, Martin Wuttke als Faust im Höllenclub „L'Enfer“. Foto: Thomas Aurin

Marc Hosemann (links) als Mephisto, Martin Wuttke als Faust im Höllenclub „L'Enfer“. Foto: Thomas Aurin

Foto: Thomas Aurin

Frank Castorf hat sich als Hausherr nach 25 Jahren von seiner Volksbühne am Ostberliner Rosa-Luxemburgplatz verabschiedet. Und noch mal richtig zugelangt. Mit Goethes "Faust", den er mit all seinen bewährten und perfekt eingesetzten Mitteln als eine maßlose Revue aufmischt, die ihren eigenen Gesetzen folgt. Vergangenen Freitag war Premiere. Nach sieben Stunden wurde der scheidende Intendant von seinen so erschöpften wie glücklichen Fans dafür bejubelt. Und für sein Theater der Selbstentfesselung, der Selbstverausgabung des vergangenen Vierteljahrhunderts. Mit "seinen" Russen aber auch mit Ibsen, Houellebecq, Shakespeare jeder Menge Pollesch. Mit Regisseuren wie Marthaler, Kersnik oder Schlingensief. Vor allem mit seinen grandiosen Schauspielern. Ob Henry Hübchen und Herbert Fritsch oder Kathrin Angerer und Bernhard Schütz. Und natürlich Martin Wuttke und Sophie Rois. Um Castorfs Zukunft macht sich niemand Sorgen. Der kann auch Oper - ziemlich gut sogar.

Was sein Haus betrifft, sind die Meinungen geteilt. Man wird sehen. 25 Jahre sind eine lange Zeit. Wenn da ein Held Adieu sagt, ist das noch keine Katastrophe, sondern auch eine Chance für Neues.

Nun also "Faust"! Und was ist es sonst noch? Zu allererst ist es ein Frank Castorf-Abend. Also einer mit Überlänge. Selbst nach dem ewig Weiblichen, das uns hinanzieht ist noch nicht Schluss. Da fangen die Faust- und Mephisto-Darsteller Martin Wuttke und Marc Hosemann an, sich darüber zu streiten, wer denn nun die Wette vom Anfang eigentlich gewonnen hat. Spitzfindig wägen sie die Worte, wie die Winkeladvokaten. Weil hier keiner richtig tot ist, streiten sich die beiden eigentlich um oder wegen Gretchen. Dann ziehen die seltsamen Männer-Freunde gemeinsam von dannen. Gretchen sorgt handgreiflich dafür, dass die beiden in dem Sarg, in den sie sich gemeinsam gelegt haben, auf Dauer bleiben. Damit hat zwar eine Frau das letzte Wort, aber gar keine Männer sind halt auch keine Lösung.

Dieses leichtfüßige sich aus der Geschichte stehlen ist nur eine Moral von der Geschicht', die der Abend bietet. Und die zumindest das Ende von Faust I und II auf einen Doppelpunkt bringt. Hinter dem stets das mitgedachte "richtige" Leben vorkommt. Wie Alexander Scheers Anspielungen auf den so heftig wie vergeblich befehdeten Castorf-Nachfolger Chris Dercon, den das Ensemble ablehnt.

Und dann die Bühne von Aleksandar Denic. Der geniale Raumerfinder hat den Raum für den Weg vom Himmel durch die Welt zur Hölle so ähnlich wie schon für Castorfs Stuttgarter Gounod-Faust gebaut. Ecke Metrostation Stalingrad. Erkennbar in einer nicht zu verdrängenden nachkolonialen Zeit. Diese Denic-Ästhetik ist für Castorf wie die Trunk aus dem Hexenfläschchen für den alten Faust: eine Verjüngung! Aus der selbst macht Martin Wuttke eine der vielen mimischen Kabinettstücke, die er an diesem Abend als Faust beisteuert. Kein Wunder, wenn Sophie Rois die Hexe ist. Da wird schon mal die Verwandlung zum körperlichen Ereignis, bei dem auch noch das "Habe nun ach" herausgewürgt und -geschleudert wird. Mit dem Auftritt der Rois neigt sich die Waage, die sich bei Castorf-Exerzitien ja immer zwischen Geniestreich und Publikumsquälerei nicht so recht entscheiden kann, deutlich in Richtung genial. Und in Richtung Goethe. Darunter gemischt hat er noch Szenen aus dem Algerienkrieg und aus dem Paris von Zolas "Nana". Alles wird zu einer großen Revue verwoben. Im Etablissement L'Enfer, in der Metro, im Lager, im Wie-platziere-ich-eine-Bombe-Film aus dem Museum für die Kolonialisierung, im Käfig und an der Rampe. Alles auf mittlerweile perfekte Art als Livevideo gedoppelt.

Wer am Ende seine Goethe-Bilanz zieht, kommt auf eine ganze Menge. Den Osterspaziergang übernimmt Sir Henry, ein kanadischer Musiker, der regelmäßig mit Castorf arbeitet. Der zweite Teil ist mit Homunculus und Helena, mit der Reise zu den Müttern und der Landgewinnung als brutaler Kolonialisierung und dann dem Schluss ganz gut vertreten. Sortiert wird eher nach dem Zufallsprinzip.

Manchmal triftet die Inszenierung weit vom rechten Faustpfad in die Intrigen von "Nana" & Co. ins allzu geschwätzig Nebensächliche ab. In der Regel löst es erleichterte Freude aus, wenn ein plötzlich einsetzender "Faust"-Schnipsel, das Ruder wieder herumreißt. Zumal sie dann allesamt zu Hochform auflaufen. Wuttke ist mit einem mimischen "Faust"-Vorrat für ein halbes Dutzend Varianten (ob unter der Greisenmaske, als Getriebener oder smarter Durchblicker) einfach grandios! Auch Lars Rudolph. Als abgedreht verknautschter Wagner oder Valery Tscheplanowa als Gretchen oder Helena. Und Alexander Scheer als Lord Byron und Anaxagoras, wenn er mit Worten jongliert und tanzt. Eigentlich erleben wir eine große Walpurgisnacht, in der alle, wie sie es selbst sagen, zu Objekten werden, nicht mehr Subjekte sind. Umhüllt von einer atmosphärischen Faustwelt, der die französische, die Pariser Perspektive etwas von der deutschen Bildungsbürger-Aura nimmt, dabei aber fest auf den genialen Klassiker vertraut. Dass sie im Eifer des Gefechtes auch mal von Gott und in der gleichen Tonlage von Frank reden, ist eine von den vielen selbstironischen Knallerbsen die immer wieder über die Bühne kullern.

Es ist alles furchtbar anstrengend. Kürzungsvorschläge hätte man viele. Vom Goethe-Text freilich würde man allerdings nichts streichen wollen.

 Noch-Intendant der Volksbühne Frank Castorf. Foto: Weissbrod/dpa

Noch-Intendant der Volksbühne Frank Castorf. Foto: Weissbrod/dpa

Foto: Weissbrod/dpa

Karten und Infos gibt es unter: www.volksbuehne-berlin.de

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