Anpacken gegen den Niedergang

Saarbrücken · Was tun gegen die Verödung des ländlichen Raums? Eine Bestandsaufnahme des „deutschen Dorfpapstes“.

 Anhaltender Leerstand ist heute das alarmierendste Warnzeichen für den schleichenden Verfall von Ortschaften. Foto: Oliver Dietze

Anhaltender Leerstand ist heute das alarmierendste Warnzeichen für den schleichenden Verfall von Ortschaften. Foto: Oliver Dietze

Foto: Oliver Dietze

Gerhard Henkel, emeritierter Professor für Humangeografie, hat das Sterben der Dörfer untersucht und plädiert für mehr lokale Demokratie als Gegenmaßnahme. Am Donnerstag hält er einen Vortrag in Homburg.

Es gibt in Deutschland etwa 35 000 Dörfer: ländlich geprägte Ortschaften mit weniger als 10 000 Einwohnern. Viele davon leiden unter Leerstand. Verursacht durch die Demographie, Verstädterungstendenzen und den Teufelskreis aus wegbrechender Infrastruktur und Abwanderung. Ist das schleichende Dorfsterben unterschätzt worden?

Henkel Ja. Auch wenn der Verlust der Infrastrukturen in den Dörfern bereits in den 60er und 70er Jahren angefangen hat. Schon damals hatten wir dort Leerstand. Danach beruhigte sich die Lage, ungefähr bis zum Jahr 2000. Danach hat sie eine neue Dramatik bekommen. Nicht zuletzt durch die großen Abwanderungen der jungen Generation. Wobei es, was die Auswirkungen dieser Landflucht angeht, regional große Unterschiede gibt.

Dorferhaltung verlangt Dorfleben verlangt Gemeinsinn. Ohne soziale Verantwortung wird sich der Niedergang vieler Gemeinden nicht aufhalten lassen. In Ihrem Buch "Rettet das Dorf!" nennen Sie ermutigende Beispiele. Die aber bleiben die Ausnahmen. Wo soll der Gemeinsinn herkommen?

Henkel Der Gemeinsinn hat auf dem Land immer noch Gewicht. Und seit dem Mittelalter Tradition, als man sich organisiert hat in Schützenvereinen, Feuerwehren oder Genossenschaften. Wobei sich das Dorf im Zuge der Moderne, durch die Individualisierung und Mobilität der Gesellschaft, verändert hat. Bestes Beispiel ist, dass ein Großteil der Dorfbewohner tagsüber gar nicht dort lebt.

Einerseits betreiben abgehetzte Städter eine Verklärung des Dorflebens und wägen das Ruhe- und Raum-Potenzial gegen Fahraufwand und spärliche Angebote ab. Andererseits ist für Jugendliche die Stadt der große SehnsuchtsraumWie passt das zusammen?

Henkel Das Land hat eine gewisse Faszination behalten für viele. Es gibt eine Sehnsucht nach dem überschaubaren ländlichen Leben. Andererseits ziehen die Jungen weg. Jedoch aus anderen Motiven als in meiner Jugend. Damals war das Dorf eng und streng, es war ein Ort vieler Zeigefinger und sozialer Kontrolle. Heute ist das völlig anders. Die Dörfer sind liberaler und weltoffener geworden. Man entflieht weniger der Enge des Dorfes. Man verlässt es, weil man ein Ziel hat. Meistens ein Studium.

Lässt sich in ländlichen Regionen, wo die Nachbarschaftshilfe traditionell stärker ist, insoweit leichter mit der Überalterung der Gesellschaft umgehen?

Henkel Jedenfalls entscheiden sich, das belegen Umfragen, viele ältere Landbewohner, deren Angehörige weggezogen sind, für einen Verbleib. Sie möchten am angestammten Ort alt werden. Woraus man ableiten könnte, dass sie dort im Alter eher Hilfe erwarten. Es gibt umgekehrt auch einen gewissen Trend, dass eine bestimmte Altersgruppe - nämlich Ehepaare um die 55, 60 - in Periphergebieten wie etwa Brandenburg und Mecklenburg aufs Land zieht und sich ein preiswertes Haus mit schönem, größeren Grundstück kauft.

Vereine sind Motoren jedes Dorfes, ist eine der Kernthesen Ihres Buches. Doch viele stehen vor dem Ruin. Wie lässt sich dieser Erosion von Vereinsstrukturen begegnen?

Henkel Ja, viele Vereine wackeln. Äußerlich und innerlich. Mitgliederzahlen schwinden. Und keiner will den Vorstand machen. Teilweise erkennen die Landkommunen diese Defizite und geben Vereinen rechtliche und organisatorische Hilfestellungen. Weil die Kommunalpolitik erkennt, wie massiv das Vereinssterben die Attraktivität des Landlebens mindern würde.

Seit zehn bis 15 Jahren beobachten Sie in Deutschland einen Gründungsboom: die Entstehung von Bürgervereinen. Selbsthilfe-Initiativen, die als lokale Infrastruktur-Feuerwehr wirken: Man kümmert sich um Ältere, um die Anlage eines Spielplatzes oder die Organisation von Dorfjubiläen. Faktisch läuft das auf die Privatisierung von Gemeindeaufgaben hinaus. Ist das, was Sie als vorbildlich rühmen, nicht eine zweischneidige Sache?

Henkel Die Frage ist berechtigt. Diese Bürgervereine sind aber in erster Linie eine Reaktion auf einen von der Politik im Zuge der Gebietsreformen verursachten Verlust an dörflicher Selbstbestimmung. Sprich von Bürgermeistern und Gemeinderäten. Durch Eingemeindungen ist gut die Hälfte der Dörfer in Deutschland aufgelöst worden. Damit hat man ihnen ihr Kraftzentrum genommen. Diese Dörfer leiden bis heute unter dieser Traumatisierung. Auch im Saarland. Die Bürgervereine versuchen, diese Verluste abzufedern.

Heute sehen wir eine Degradierung der Gemeinden. Die Spielräume für investive Maßnahmen sind meist minimal; Weichenstellungen werden auf Landesebene getroffen. Auch knebelt die Kommunalaufsicht viele Gemeinden. Ist das die politische Wirklichkeit auf dem Land?

Henkel Absolut. Im Saarland gibt es ja seit der Gebietsreform nur noch Großgemeinden. Wenn Sie so wollen, ist das Dorfleben doppelt geschädigt worden. Indem die dörfliche Selbstverantwortung aufgelöst und den verbliebenen Kommunen staatlicherseits Spielräume genommen worden sind. Die Dörfer spüren die Entmündigung durch die staatliche Politik.

Welche politische Lehre wäre daraus zu ziehen? Dezentralisierung?

Henkel Unbedingt. Die Demokratie muss wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Demokratie ist da, wo Leute sich engagieren und anpacken. Das lässt sich am besten in kleinen Einheiten üben und praktizieren.

Viele Ortskerne veröden. Der Einzelhandel stirbt, Wirtshäuser schließen. Es gibt immer weniger Orte, die als Sozialbörsen fungieren können. Wie sollen solche Orte revitalisiert werden?

Henkel Die Ortskerne prägen das Gesicht des Ortes. Wenn sie veröden, ist das tödlich. Oft merkt man es erst, wenn diese Treffpunkte verschwinden. Ein Ort, der keinen lebendigen Mittelpunkt mehr hat, muss sich etwas einfallen lassen. Leider herrscht da vielerorts inzwischen Resignation. Aber es gibt genug Dörfer, wo die Bürger anpacken und im Dorfzentrum einen neuen Treffpunkt einrichten.

DAS GESPRÄCH FÜHRTE CHRISTOPH SCHREINER.

Zum Thema:

Homburger Tagung zur Nachbarschaftskultur In Homburg findet am Donnerstag (Landratsamt, Am Forum 1) unter dem Titel "Nachbar schafft Landeskultur" eine Regionaltagung der Deutschen Landeskulturgesellschaft statt. Von 9.30 Uhr bis 16 Uhr wird es Vorträge und Diskussionen geben, darunter um 10.15 Uhr ein Referat von Gerhard Henkel ("Rettet das Dorf - was jetzt zu tun ist") oder um 11.15 Uhr ein Vortrag des Dauner Bürgermeisters Werner Klöckner ("Mein Nachbar im sozialen Raum"). Infos: www.dlkg.org

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